# taz.de -- Soziologe über Digitalisierung: „Menschen sind emotional“ | |
> Bisher sahen sich Menschen als rationale Wesen. Christoph Kucklick ist | |
> überzeugt: Im Zuge stärkerer Rechner wird sich dieses Bild ändern. | |
Bild: Dieses Modell ist dann doch etwas älter. | |
taz: Herr Kucklick, 272 Seiten hat Ihr Buch über Digitalisierung. Wie ist | |
Ihre Beziehung zur Digitalisierung in einem Satz? | |
Christoph Kucklick: Ich bin endlos fasziniert – und endlos erschrocken. | |
Beides? Warum? | |
Ich bewundere die technischen Möglichkeiten, die gerade entwickelt werden. | |
Viele werden unser Leben positiv beeinflussen. Ich erschrecke, wie sehr die | |
Digitalisierung unsere Gesellschaft überfordert und welche derzeit noch | |
unlösbaren Fragen sie aufwirft. | |
Was ist Ihres Erachtens der Kern der Digitalisierung? | |
In einem Satz: Intelligente digitale Maschinen kommunizieren in unserer | |
Gesellschaft mit. Plötzlich sind sie überall dabei. Sie rechnen uns aus, | |
sie überraschen uns, sie bewerten und sortieren uns. | |
Wie wird uns das beeinflussen? | |
Wir sehen uns bislang selbst als überwiegend rationale Wesen, darin besteht | |
das Narrativ der Moderne. Dieses gängige Menschenbild werden wir verändern | |
müssen, je mehr wir es mit kognitiv gleichrangigen oder sogar überlegenen | |
Maschinen zu tun haben. | |
In welche Richtung könnte das gehen? | |
Wir werden als zukünftiges Alleinstellungsmerkmal des Menschen nicht die | |
Rationalität ausmachen, sondern die Sozialität: unsere Emotionalität und | |
Empathie. Und wir werden eine nochmals gesteigerte Anerkennung der | |
Unterschiedlichkeit der Menschen kultivieren. | |
Warum das? | |
Die Unterschiede zwischen Menschen werden deutlicher herausgearbeitet, weil | |
sie durch digitale Sensoren und digitale Maschinen besser erfasst werden | |
können. Wir werden uns darauf einstellen müssen, mit diesem Mehr an | |
Unterschieden umzugehen und diese bereitwilliger anzuerkennen. In den | |
jetzigen Debatten rund um Gender- und Rassismusfragen geht es ja bereits | |
stark um die größere Anerkennung von Unterschieden. | |
Digitalisierung könnte uns helfen, Rassismus und Sexismus zu überwinden? | |
Die grobkörnigen Unterschiede und Ausschlüsse, die wir in der Moderne | |
getroffen haben, zwischen Männern und Frauen, zwischen Ethnien und | |
Nationen, werden uns in der Rückschau als brutal simpel und | |
menschenverachtend vorkommen. | |
Sie sprechen von digitaler Revolution. Warum? | |
Digitalisierung ist nicht nur eine technische Innovation. Sondern etwas, | |
das fundamental neue Fragen aufwirft. | |
Welche denn? | |
Zum Beispiel: Wir werden es zunehmend mit intelligenten Maschinen zu tun | |
haben, die eigenständig handeln, die uns also überraschen. Diese | |
Überraschung ist, anders als bei bisherigen Maschinen, aber keine | |
Fehlfunktion, sondern das, was wir erwarten. Kürzlich etwa hat eine | |
Maschine ein altes mathematisches Problem gelöst, das sogenannte | |
Erds-Diskrepanz-Problem. | |
Einziges Problem: Der Beweis ist elf Milliarden Zeilen lang, also so | |
umfangreich wie die gesamte Wikipedia. Kein Mensch kann den Beweis noch | |
überprüfen. Das wirft die Frage auf: Können Maschinen wahrheitsfähige | |
Aussagen treffen? Und: Akzeptieren wir die Aussagen von Maschinen, auch | |
wenn wir sie nicht mehr prüfen können? Das ist ein historisch neues | |
Problem. | |
Gibt es weitere Beispiele? | |
Ja. Obamas letzter Wahlkampf war extrem technologie- und datengetrieben. | |
Obama konnte Wähler viel gezielter ansprechen als bislang und seine | |
Botschaften sehr feinteilig maßschneidern. Das verändert nachweislich die | |
Kommunikation im Wahlkampf und damit die Dynamik der Demokratie. Bestimmte | |
Dinge werden kommen; mit denen werden wir uns auseinandersetzen und die | |
werden wir regulieren müssen. | |
Wer kann diese Regulierung übernehmen? Der Politik trauen Sie das ja nicht | |
zu. | |
Ich vertraue der Politik nicht, weil ich ihr inzwischen zu viel zutraue. | |
NSA- und BND-Skandal, VDS und vieles mehr: Demokratisch gewählte | |
Regierungen stehen derzeit nicht aufseiten der Bürger, sondern verfolgen | |
ihre eigenen Ziele, vor allem: die Möglichkeiten des Digitalen zu mehr | |
Kontrolle und Überwachung zu nutzen. Damit scheiden sie als ehrliche Makler | |
aus. Wir übersehen leicht, dass die Hauptschurken im Digitalen nicht die | |
Konzerne, sondern die Staaten sind. Ich setze daher eher auf | |
gesellschaftliche Entwicklungen, auf eine Mischung aus Markt-, | |
Regulierungs- und zivilgesellschaftlichen Lösungen. | |
Wie muss man sich das vorstellen? | |
Als gute Idee empfinde ich den Vorschlag von Viktor Mayer-Schönberger und | |
Kenneth Cukier, sogenannte Algorithmisten einzuführen. Sie sind eine Art | |
Wirtschaftsprüfer für Algorithmen. Sie überprüfen, ob Algorithmen fair und | |
angemessen operieren. | |
Wo wäre das relevant? | |
Etwa an den Staatsgrenzen. Oft errechnen Algorithmen, wer kontrolliert | |
wird. Nach welchen Kriterien funktionieren diese Algorithmen? Sind sie | |
fair? Das wissen wir meist nicht. Dafür brauchen wir Kontrollinstanzen, | |
eben jene Algorithmisten. Wirtschaftsprüfer sind in einer ähnlichen | |
Situation Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Konzerne wurden so groß, | |
dass diese von außen niemand mehr kontrollieren konnte. | |
Sie haben darüber gesprochen, dass uns Maschinen überraschen werden. | |
Maschinen werden aber von Menschen programmiert. | |
Viele Maschinen sind heute lernende Maschinen, die anhand der Daten, die | |
man ihnen füttert, selbstständig Schlüsse ziehen oder Dinge erkennen. Was | |
dabei herauskommt, ist nicht mehr zu prognostizieren. Ein Beispiel sind | |
Abverkaufsprognosen für Supermärkte. Längst prognostizieren Maschinen, wie | |
viel Fleisch oder Gemüse am Wochenende verkauft wird – aber nicht anhand | |
einer von Menschenhand programmierten Software, sondern einer | |
eigenständigen Optimierung aller Daten. Womit sie übrigens um rund 40 | |
Prozent besser liegen als die Prognosen der menschlichen Experten. | |
Wie das Maschinenergebnis allerdings im Detail zustande kommt, entzieht | |
sich meist sogar der Einsicht der Datenwissenschaftler. | |
Zurzeit konzentrieren sich viele Unternehmen, die die Digitalisierung | |
vorantreiben, auf das Silicon Valley. | |
Digitalisierung hat zu einer deutlichen Verschärfung der Ungleichheit in | |
entwickelten Gesellschaften geführt. Derzeit erzielen Unternehmen, die | |
clever mit digitalen Technologien umgehen, enorme Überrenditen. Das liegt | |
aber nicht zwingend im Wesen der Digitalisierung, sondern entspricht der | |
jetzigen Phase. Wir werden dazu kommen müssen, die Datenströme und den | |
Umgang mit Daten auf eine neue Weise zu regulieren, und wir brauchen dafür | |
neue Kontrollmöglichkeiten. | |
Agieren Google & Co nicht in Gesetzeslücken, was vielen Menschen Angst | |
macht? | |
Mir auch. Vieles spielt sich derzeit in einem Freiraum ab, der Ängste | |
weckt. Ein Kennzeichen von einer Revolution ist aber auch, dass man oft | |
noch gar nicht die Fragen formulieren kann, deren Antworten man benötigt. | |
Brauchen wir aber nicht jetzt Leitsätze in dem Umgang mit Daten? Beispiel: | |
Krankenversicherungen. Wie können wir an einem solidarischen | |
Krankenkassenmodell festhalten, wenn unser Verhalten immer genauer erfasst | |
und bewertet wird? | |
Das ist die Personalisierung von Dienstleistungen. Es wird ein starkes | |
Interesse geben, solche Möglichkeiten zu eröffnen – nicht nur von | |
Versicherungen, auch von Menschen, die sich davon einen Vorteil erhoffen. | |
Ist es dann vorbei mit der Solidarität? | |
Die Solidarität in unserer Gesellschaft kommt massiv unter Druck. Ich weiß | |
nicht, ob sie vorbei ist, aber sie wird ganz neuen Bewährungsproben | |
ausgesetzt. | |
Sie sagen, in einer digitalen Gesellschaft werden neue Begabungen wichtig. | |
Was meinen Sie damit? | |
Datenkonzerne wie Google und Facebook sind nicht nur umstritten, sondern | |
auch Avantgarde. Da ist es spannend zu schauen, welche Mitarbeiter, welche | |
Fähigkeiten suchen die eigentlich? Das Ergebnis beschreibe ich in meinem | |
Buch. Die Datenkonzerne legen keinen hohen Wert auf bestimmte | |
Fachkenntnisse, sondern auf das Talent, Lösungsansätze in unübersichtlichen | |
Problemlagen zu finden. | |
Oft gehört dazu, die Probleme, die man lösen möchte, überhaupt erst einmal | |
zu erfinden. Gefragt sind Leute, die schnell Ressourcen aus den | |
unterschiedlichsten Gebieten zusammenbringen können und rasch vergessen, | |
was gestern wichtig war – um heute neue Ansätze zu entwickeln. Das wird, so | |
vermute ich, eine zentrale digitale Begabung werden. | |
Wird das auch in absehbarer Zukunft eine menschliche Domäne bleiben? | |
Ja, das werden Maschinen nicht so schnell schaffen. | |
24 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Paddy Bauer | |
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