# taz.de -- Zum Werk von Vincent Dieutre: Glühwürmchen über Palermo | |
> Theorie, Kino, Politik: Das Festival Visions du Réel präsentiert in Nyon | |
> das Werk des französischen Regisseurs Vincent Dieutre. | |
Bild: Vincent Dieutre (rechts) und sein Patensohn reisen in Mon voyage d'hiver�… | |
Einige Monate bevor er im November 1975 ermordet wurde, hatte Pier Paolo | |
Pasolini einen zutiefst kulturkritischen Text verfasst, „Das Machtvakuum in | |
Italien“. Die Massenkultur, das Fernsehen, die Herabstufung des Bürgers zum | |
Konsumenten, all dies trage unumkehrbar zu einer Aushöhlung der Kultur und | |
zu einer Verdummung der Menschen bei. | |
Pasolinis Tonfall war apodiktisch, und wer sich vor Augen führt, wie sich | |
die Amtszeiten Silvio Berlusconis auf Italien ausgewirkt haben, für den mag | |
es naheliegen, in den Abgesang einzustimmen. In dieser pessimistischen | |
Perspektive hätte sich längst in postdemokratischen Alltag verwandelt, was | |
für Pasolini noch die sich anbahnende Katastrophe war. | |
Auftritt Georges Didi-Huberman. Der französische Theoretiker („Bilder trotz | |
allem“) hat Pasolini in seinem Buch „Survivance des lucioles“ („Vom | |
Überleben der Glühwürmchen“; die deutsche Ausgabe erschien 2012) | |
widersprochen, und er hat sich vor einem Bücherregal dabei filmen lassen, | |
wie er seine Ideen zu einer Widerständigkeit im Kleinen darlegt. Der Film | |
heißt „Orlando ferito Roland blessé“ (Verwundeter Roland, 2013), und der | |
Titel legt nahe, dass er noch mehr als die Gegenüberstellung von Pasolini | |
und Didi-Huberman beinhaltet. | |
Eine fiktive Figur aus dem frühen 16. Jahrhundert kommt hinzu, der rasende | |
Roland, Held in Ariosts mäanderndem, bis zum Mond reisenden Versepos; eine | |
Marionettentheatertruppe in Palermo bringt es auf die Bühne. Wer sich nun | |
ungläubig fragt, wie um alles in der Welt das zusammengeht – Theorie und | |
Politik, Mondreise und Glühwürmchen –, der hat noch keinen Film des | |
französischen Regisseurs Vincent Dieutre gesehen. | |
## Tastend und tentativ | |
Das Filmfestival Visions du Réel in der Westschweizer Kleinstadt Nyon | |
widmet Dieutre gerade eines seiner beiden Ateliers, eine Retrospektive, | |
flankiert von einem intensiven Werkstattgespräch, das am Donnerstag | |
stattfindet. Eine gute Gelegenheit, zu verfolgen, wie der Pariser | |
Filmemacher Entlegenes zusammenbringt, kombiniert und kontrastiert und | |
dabei Bereiche fürs Kino erschließt, die normalerweise Buchautoren | |
vorbehalten sind. | |
Bei Dieutre geht es nämlich immer wieder um Theorie und Diskurs, um | |
Kunstbetrachtung und -kritik. Seine Arbeitsweise in Filmen wie „Mon voyage | |
d’hiver“ (2003), „Jaurès“ (2012), „Bologna Centrale“ (2003), „Le… | |
ténèbres“ (2000) oder eben „Orlando ferito Roland blessé“ ist essayist… | |
im besten Sinne des Wortes: tastend und tentativ. Er tritt nicht mit der | |
Geste desjenigen an, der Neues in die Welt setzt, sondern beschäftigt sich | |
mit Vorhandenem – seien es Bücher, Gemälde, Filme oder Musikstücke –, und | |
er tut dies auf eine offene, vagabundierende Weise, deshalb ist es auch | |
nicht leicht, seine Arbeit auf den Punkt zu bringen. | |
„In Orlando Ferito Roland blessé“ zum Beispiel mischen sich Theorie, | |
Politik, schwule Liebes- und Bettgeschichten, sizilianisches Tagebuch und | |
abgefilmtes Marionettentheater. Die Glühwürmchen, die metaphorischen | |
Statthalter für die Möglichkeit von Einspruch und Veränderung, tanzen als | |
digitale Leuchtkörper über den Dächern Palermos und als echte Tiere in | |
einem üppigen Garten. In anderen Szenen verwandeln sie sich in aufglimmende | |
Zigaretten (Dieutre raucht viel, in den Filmen genauso wie beim Gespräch), | |
in wieder anderen treten die Aktivisten, die 2012 das Teatro Garibaldi in | |
Palermo besetzen, an die Stelle der Glühwürmchen, später diejenigen, die | |
den auf Lampedusa anlandenden Flüchtlingen zur Seite stehen. | |
Das Teatro Garibaldi, führt Didi-Huberman in charmantem Italienisch aus, | |
werde zwar geräumt, aber das sei kein Grund, die Besetzung für nutzlos zu | |
erklären. Auch wenn sie nicht von Dauer ist, hinterlässt sie eine Spur, und | |
diese Spur markiert eine Differenz. In Anlehnung an Walter Benjamin spricht | |
Didi-Huberman von „organisiertem Pessimismus“: Die Spielräume sind klein | |
bis nichtig, die Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, und was man in | |
Angriff nimmt, ist zum Scheitern verurteilt. Und doch macht es einen | |
Unterschied, ob man handelt oder ob man verzagt. | |
## Im 19. Arrondissement von Paris | |
Eine ähnliche Geste lässt sich in „Jaurès“ erkennen, dem Protokoll einer | |
vorübergehenden Besetzung. Flüchtlinge, junge Männer aus Afghanistan, | |
campieren an einem Kanal im 19. Arrondissement von Paris, in der Nähe der | |
nach einem Sozialisten benannten Metrostation Jaurès. Der Zufall will es, | |
dass Dieutres Geliebter Simon eine Wohnung hat, deren Fenster auf das | |
improvisierte Camp blicken. Dieutre verbringt die Nächte bei Simon, einen | |
Schlüssel zur Wohnung hat er nicht, Simon definiert sich nicht als schwul, | |
und Dieutre bleibt Gast in seinem Leben, irgendwann gehen die beiden | |
auseinander. | |
Doch solange Dieutre bei Simon übernachtet, filmt er vom Fenster aus die | |
Flüchtlinge. Er geht nicht zu ihnen, er interviewt sie nicht, er gibt nicht | |
vor, Informationen zu sammeln, die Fremdheit zu überwinden, zu helfen. | |
Trotzdem legt der Blick aus der Ferne nach und nach Routinen, Tagesabläufe | |
und den Einfallsreichtum frei, den die Not gebiert. Am Ende wird das Camp | |
geräumt, die Zukunft der Männer ist ungewiss. Und doch macht es einen | |
Unterschied, dass sie dort gewesen sind, so wie es einen Unterschied macht, | |
dass Dieutre für eine Zeit Gast im Leben von Simon gewesen ist. | |
„Ich bin froh, das es noch Leute gibt, die militantes Kino machen“, sagt | |
Dieutre, als wir uns am Sonntagmittag auf der Place Perdtemps in Nyon | |
gegenübersitzen. „Ich bin auch selbst in gewisser Weise militant, aber | |
meine Filme legen keine Probleme dar, sie beobachten eher, wie ein Problem | |
zu mir kommt.“ Dieutre ist 54 Jahre alt, die Haare und der Bart sind grau, | |
die Falten um die Augen herum ausgeprägt. Wer mehrere seiner Filme | |
hintereinander sieht, kann verfolgen, wie der Filmemacher älter wird. | |
Denn Dieutre setzt sich in allen seinen Filmen in Szene, als Stimme aus dem | |
Off und als Akteur im Bild, meistens in einem Hotelzimmer oder in | |
Wohnungen, die Freunde dem Reisenden zur Verfügung stellen. Es verschlägt | |
ihn nach Buenos Aires und Bologna, nach Catania und Dresden, nach Utrecht | |
und Neapel, oft teilt er das Bett mit einem anderen Mann, mit Gaspare, | |
Luigi, Werner, Tadeusz, Simon oder George, und manchmal – etwa in „Después | |
de la revolución“ (2007), einem Travelogue aus Buenos Aires – geht es | |
überraschend explizit zu. | |
## Schatten einer Sehne | |
In einer zittrig-fiebrigen Bilderfolge, die vieles im Unscharfen belässt | |
und sich an einzelnen, kaum zu definierenden Körperteilen festhält, blitzen | |
Einstellungen auf einen erigierten Schwanz und eine anale Penetration auf. | |
Mit Kondom. In „Leçon des ténèbres“ (2000) wiederum stellt das | |
Zusammenspiel zweier Männerkörper in spärlichem Licht nach, was die Malerei | |
des 16. und 17. Jahrhunderts so besonders macht: die Chiaroscuro-Effekte, | |
das Modellieren von Körpern aus der Dunkelheit heraus. Der Schattenwurf | |
einer gespannten Sehne auf einem Gemälde, das Dieutre betrachtet, findet | |
ein visuelles Echo, wenn der Filmemacher im Schein einer Lampe seinen | |
Geliebten umarmt. | |
Erneut trifft zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört: | |
Hochkultur und schwuler Sex, Caravaggios Gemälde und der von jeder | |
Schüchternheit befreite Blick auf Lust. „Ich mische immer das, was ich | |
kulturelle Ideen nennen würde“, sagt Dieutre, „also Caravaggio in Rom oder | |
Schubert in Deutschland, mit der materiellen Wahrheit von | |
Männerbegegnungen, mit Cruising und Drogen.“ | |
Auch was das Material anbelangt, herrscht Vielfalt aus 35 mm, Super 8, | |
analogem und digitalem Video. Wenn Dieutre anderen Filmemachern Tribut | |
zollt, wenn er sich zum Beispiel in „Viaggio nella dopo-storia“ (2015) vor | |
Roberto Rossellinis „Viaggio in Italia“ verbeugt, dann sieht man die Szenen | |
aus dem Originalfilm nicht in guter Qualität, sondern unscharf, | |
kontrastarm. Denn Dieutre findet sie im Internet und filmt sie von seinem | |
Laptop ab. Das hat zum einen rechtliche Gründe, zum anderen liegt Dieutre | |
viel an der Idee der Collage. | |
„Ich beziehe mich auf die großen Gesten der modernen Kunst“, sagt er. „Es | |
gibt zwei Thematiken: die des monochromen Bildes, der Leinwand, die man | |
dann weiß anmalt. Das wäre die Landschaft, man stellt die Kamera auf und | |
schaltet sie ein, und das ist’s. Die andere ist die des Readymades. Man | |
findet etwas auf der Straße und sagt: ’Das ist mein Werk.‘ Die | |
Duchamp-Geste. Das wären Amateuraufnahmen, Archivbilder oder Werbung. Nach | |
diesen zwei großen Gesten kam Dada und erfand die Collage.“ | |
Das verbindende Moment in Dieutres Collagen, der Klebstoff, ist eine | |
besondere Freigebigkeit: die Großzügigkeit derjenigen, die dem Reisenden | |
ihre Wohnungen zur Verfügung stellen, die Hilfsbereitschaft derer, die | |
Flüchtlinge unterstützen, die Offenheit derer, die ihre Körper und ihre | |
Lust anbieten, die Gabe, in einer anderen als der eigenen Sprache zu reden. | |
In Dieutres Filmen schottet sich nichts und niemanden ab, alles – Bilder, | |
Menschen, Gedanken – strebt nach Austausch und Kontakt. Es ist eine | |
allumfassende Zärtlichkeit, der man sich nicht entziehen kann und die in | |
diesen Tagen, in denen die Abschottung Europas besonders fatale | |
Konsequenzen hat, nötiger denn je ist. | |
22 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
## TAGS | |
Pier Paolo Pasolini | |
Kolonialismus | |
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