# taz.de -- Filmfestival in Nyon: Kriegsfeldküchen | |
> Das Filmfestival "Visions du Réel" in der Kleinstadt Nyon, am Ufer des | |
> Genfer Sees, befasst sich in seinem Programm immer wieder mit | |
> Bürgerkriegen und Kriegsverbrechen. | |
Bild: Die französische Schauspielerin Catherine Deneuve spielt in Joana Hadjit… | |
"Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie störe", sagt ein junger Mann zu | |
einer jungen Frau, nachdem sie aus dem Zug gestiegen sind. "Tragen Sie das | |
Tuch wegen Palästina oder aus Stilgründen?" Die Frau mit dem schwarz-weiß | |
gemusterten Schal stutzt, sie war schon im Begriff, ihren Freund zu | |
umarmen, der am Bahnsteig auf sie wartet. "Aus Stilgründen", sagt sie. Der | |
junge Mann, eben noch zugewandt und höflich, schüttelt missbilligend den | |
Kopf. Er geht den Bahnsteig hinunter, während die junge Frau ihren Freund | |
mit einem ausdauernden Zungenkuss begrüßt. | |
Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass es im westschweizerischen Nyon zu | |
schärferen Kulturkonflikten als zu dieser Begegnung am Bahnhof kommt. Die | |
Kleinstadt liegt am Ufer des Genfer Sees, einer der wohlhabendsten Gegenden | |
Europas. Von der Schlossterrasse schaut man auf ein pittoreskes Labyrinth | |
aus Gassen und Ziegeldächern, an alten Mauern blühen Glyzinen, an klaren | |
Tagen reicht der Blick bis zum Mont Blanc, und die Autofahrer halten | |
verlässlich vor jedem Zebrastreifen. Umso gewaltiger ist der Kontrast, wenn | |
man ins Kino geht - denn das Programm der Visions du Réel ist wie die | |
düstere Kehrseite der aufgeräumten Kleinstadtatmosphäre. Immer wieder | |
befassen sich die Filme mit Bürgerkriegen, Kriegsverbrechen und Völkermord; | |
in diesem Jahr stellten sich recht viele die Aufgabe, traumatisierende | |
geschichtliche Ereignisse zu erfassen, lange nachdem diese sich zugetragen | |
haben. Ein Kino der Nachträglichkeit: Wie gehen Menschen damit um, dass | |
ihnen vor 10, vor 20, vor 60 Jahren Unmenschliches angetan wurde? Oder | |
damit, dass sie selbst Unmenschliches getan haben? Welche Bilder finden | |
sich dafür? Und was bleibt vom Jahrhundert der Extreme, von | |
Kriegsverbrechen, von Internierungs-, Konzentrations- und | |
Vernichtungslagern, von Millionen toten Soldaten? | |
Die makaberste Antwort lautet: Kochrezepte. "Cooking History" von Peter | |
Kerekes, eine slowakisch-tschechisch-österreichische Koproduktion, ist eine | |
Tour de Force durch die Kriege des 20. Jahrhunderts. Der Film verbindet die | |
einzelnen Kriegsschauplätze, indem er sich auf die Feldküchen konzentriert: | |
Was essen Soldaten und wer kocht für sie? Dabei bringt Kerekes die | |
Protagonisten jeweils in Situationen, die die konkreten Umstände ihrer | |
Kriegserfahrung rekonstruieren. Ein älterer Deutscher zum Beispiel steht in | |
einem Maisfeld und erinnert sich daran, wie er sich im Zweiten Weltkrieg in | |
einem anderen Maisfeld vor einem sowjetischen Panzer versteckte. Er | |
erzählt, wie er sich vorstellte, als Hackfleisch zwischen den Panzerketten | |
zu enden. Kerekes lässt einen Panzer durchs sattgrüne Feld rollen, dann | |
schneidet er auf eine russische Küche, darin eine alte Dame, einst | |
Feldköchin für die sowjetischen Soldaten. Sie schiebt Fleisch in den | |
Fleischwolf, im Close-up sieht man, wie die rot-weiße, fettige Masse aus | |
dem Apparat quillt. | |
Kerekes Film ist frivol, Respekt gegenüber dem historischen Stoff legt er | |
nicht an den Tag. Eine konventionellere Dokumentation wie "The Living" von | |
Sergei Bukowski dagegen geht ganz in der Bedeutsamkeit, der Schwere der | |
historischen Ereignisse auf. Bukowskis Film handelt von der verheerenden | |
Hungersot, die zu Beginn der 30er-Jahre die Ukraine heimsuchte, nachdem die | |
dortigen Bauern durch die stalinistische Landreform um ihre Höfe gebracht, | |
als Kulaken verfemt und von jeder Nahrungsmittelversorgung abgeschnitten | |
worden waren. In den faltigen Gesichtern alter Bäuerinnen sucht der | |
Regisseur nach den Spuren dieses Massenmords, kommt aber schnell an eine | |
Grenze: Er weiß zu genau, was er sagen will und was die Zuschauer denken | |
sollen. "The Living" hält in keinem Augenblick inne, um über sich selbst | |
und die gewählten Darstellungsformen nachzudenken. So ordnen sich die | |
Aussagen der Zeitzeugen und das Archivmaterial auf eine Weise, dass als | |
Reaktion eigentlich nichts anderes als Betroffenheit bleibt. | |
Andere Regisseure dagegen misstrauen dem Glauben, was war, lasse sich im | |
Kino umstandslos repräsentieren. Beispielhaft für diesen essayistischen | |
Zugang ist das Werk der libanesischen Filmemacher Joana Hadjithomas und | |
Khalil Joreige, denen die Visions du Réel in diesem Jahr eines ihrer | |
"Ateliers" gewidmet haben - eine Werkschau, die in eine mehrstündige | |
Podiumsdiskussion mündet. In ihrem jüngsten Film, "Je veux voir" ("Ich will | |
sehen") schicken sie Catherine Deneuve an der Seite des libanesischen | |
Schauspielers Rabih Mroué in den Süden des Libanons. Deneuve will sehen, | |
welche Spuren der Einmarsch Israels im Sommer 2006 hinterlassen hat. "Je | |
veux voir" bewegt sich an der Schnittstelle von Dokument und Fiktion - | |
Hadjithomas und Joreige folgen einem Drehbuch, das sie den Schauspielern | |
vorenthalten. Als Mroué einen Monolog Deneuves aus "Belle de jour" | |
rezitiert, verfährt er sich und landet auf einer verminten Straße - eine | |
inszenierte Szene, die nichtsdestotrotz Zeugnis ablegt von den Gefahren, | |
die im Süden Libanons gegenwärtig sind. Deneuve muss erst mal eine | |
Zigarette rauchen, als sie wieder auf sicherem Boden steht. Dabei hat "Je | |
veux voir" ein Problem: Außer kaputten Häusern, Schutt und rostigen | |
Stahlträgern gibt es nur wenig zu sehen. Was war, gibt sich nicht preis, | |
nur weil man sich umschaut. In dem Maße, wie Hadjithomas und Joreige die | |
Repräsentation von Geschichte verweigern, laufen sie Gefahr, sich in | |
Flüchtigkeit zu verlieren. | |
Dass das Genre der Tragikomödie auch als Dokumentation funktioniert, zeigt | |
"Pizza in Auschwitz" von Moshe Zimmermann. Der Regisseur begleitet einen | |
alten Mann, Danny Chanoch, und dessen erwachsene Kinder auf einer Reise | |
durch Osteuropa. Die Reise ist Teil einer obsessiven Auseinandersetzung mit | |
der Vergangenheit; sie folgt der Route, die Chanoch zurücklegte, als er als | |
Kind deportiert wurde - von seiner litauischen Geburtsstadt bis nach | |
Auschwitz-Birkenau. Erstaunlicherweise ist Chanoch guter Dinge und voller | |
Tatendrang, er scherzt ohne Unterlass, sagt Dinge wie: "Mengele war mein | |
Privatarzt" oder "Ich habe einen B. A., einen Bachelor of Auschwitz". Sein | |
Wunsch ist, in seiner Baracke in Birkenau zu übernachten, an der Seite | |
seiner Kinder. Die Tochter, deren Stimme die Geschehnisse aus dem Off | |
kommentiert, ist voller Angst und Trauer - und auch voller Ressentiment | |
gegen den Vater, der sie von Kindheit an mit seinen Erlebnissen | |
konfrontierte. Einmal, beim Frühstück, klagt sie darüber, das sie in der | |
Nacht zuvor durch einen Wald gefahren seien und dass sie das nicht ertrage. | |
Sie weint, ihr Vater ist betreten. Als sie ein Mineralwasser bestellt, | |
fragt die Kellnerin: "Mit oder ohne Gas?" Vater und Tochter lachen | |
zögerlich. | |
30 Apr 2009 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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