# taz.de -- Filmemacher José Luis Guerín: Er spielt mit Schatten und Gespenst… | |
> Der katalanische Filmemacher José Luis Guerín wandert zwischen Fiktion | |
> und Wirklichkeit. Das Filmfestival Visions du Réel widmete ihm eine | |
> Werkschau. | |
Bild: "Innisfree" von 1990 ist eine Hommage an John Fords in Irland gedrehten F… | |
Ein marokkanischer Bauarbeiter erzählt einen Traum. Er träumt, wie er in | |
seinem Bett liegt und zum Fenster hinaufblickt. An dessen Rand erscheint | |
ein Gespenst. Aber nicht der ganze Kopf, das würde ihn weniger ängstigen, | |
nein, nur ein Auge lugt über das Fensterbrett hinüber. Im Traum wünscht er | |
sich nichts sehnlicher, als aufzuwachen, damit der Spuk ein Ende hat. Doch | |
es gelingt ihm nicht, er schläft und träumt, und das Gespenst schaut ihn | |
mit einem Auge an. Der Bauarbeiter, ein sanfter Mann um die 40, erzählt von | |
seinem Traum in der Mittagspause; in einer anderen, am Abend spielenden | |
Szene hält er einen Scheinwerfer und wirft so Schatten an die Wände des | |
Rohbaus, während sein spanischer Kollege eine Mauer errichtet, in der er | |
Platz für ein Fenster lässt. | |
Die beiden Szenen stammen aus José Luis Gueríns Film "En construcción" ("Im | |
Bau"), einer 2001 fertiggestellten Langzeitbeobachtung; sie handelt davon, | |
wie in Barcelonas Barrio Chino, einem Altstadtquartier in der Nähe des | |
Hafens, alte Häuser abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. Anfang | |
der 90er Jahre war das Barrio Chino eine ziemlich heruntergekommene Gegend, | |
in den engen Gassen gingen viele Huren und viele Dealer ihrer Arbeit nach, | |
mittlerweile gibt es Kulturzentren, ein renommiertes Museum für | |
zeitgenössische Kunst, Flanierstraßen und Flagshipstores. Guerín filmt den | |
Übergang vom einen zum anderen Zustand, ohne dass je der Begriff der | |
Gentrifizierung fiele. Er ist zugegen, wenn die Abrissbirnen die Altbauten | |
zum Einstürzen bringen und sich zwischen den Häusern neue Sichtachsen | |
öffnen, er hängt sich an die Fährte einer jungen Prostituierten und ihres | |
maulfaulen Freundes und an die eines alten Herrn, der sich in seiner Rolle | |
als Geschichtenerzähler sichtlich wohlfühlt. Als in einer Baugrube Skelette | |
aus dem 6. Jahrhundert entdeckt werden, filmt er die Nachbarn, die sich | |
über den Fund unterhalten: "Jetzt liegen sie still da", sagt ein sieben | |
Jahre alter Junge, während er auf die Knochen deutet, "aber am Abend stehen | |
sie auf und gehen herum, wie im Fernsehen." | |
Auf großartige Weise mischt "En construcción" den schweifenden Blick mit | |
der tiefgehenden Reflexion, das absichtslose Registrieren mit der | |
Verdichtung der Motive. Im Interview spricht Guerín von der "Dialektik aus | |
Plan und Zufall", die für ihn "zum innersten Wesen des Kinos gehört". Und | |
davon, dass er "ohne vorgefertigte Idee im Kopf, aber offen für jedwede | |
Begegnung" durch die Straßen gehe, "bereit für den Zufallsfund". | |
Das Ergebnis seines Flanierens zu studieren, dazu bot das am Mittwoch zu | |
Ende gegangene Filmfestival Visions du Réel im westschweizerischen Nyon | |
ausgiebig Gelegenheit. Es widmete Guerín eine Werkschau und ein mehr als | |
dreistündiges Werkstattgespräch, so dass viele Facetten seiner filmischen | |
Arbeit - und auch die ein oder andere Ambivalenz - zum Vorschein kamen. | |
Guerín, 1960 in Barcelona geboren, ist, was die Teilnahme an | |
internationalen Filmfestivals anbelangt, kein Unbekannter - 2010 etwa | |
zeigte er seinen Travelogue "Guest" in der Orizzonti-Reihe der Filmbiennale | |
von Venedig, und 2007 lief, ebenfalls am Lido, im Wettbewerb "En la ciudad | |
de Silvia" ("In Silvias Stadt"); für "En construcción" erhielt er in San | |
Sebastían einen Jurypreis. Guerín ist kein Dokumentarfilmer im strengen | |
Sinn, eher ein Essayist, der zwischen der Fiktion, dem Registrieren der | |
Wirklichkeit und seiner Liebe zum Kino hin und her pendelt. | |
Ein Film wie "Tren de sombras" ("Zug der Schatten") aus dem Jahr 1997 etwa | |
nimmt seinen Ausgang bei frühen Homemovies; der Anwalt Gérard Fleury aus | |
der Normandie filmte Ende der 20er Jahre seine Familie. Die Filmrollen | |
wurden unsachgemäß gelagert, das empfindliche Material vergammelte, Guerín | |
sichtete, was davon übrig geblieben war, und drehte dann seine eigene | |
Version davon, das heißt, er inszenierte die Szenen der Sommerfrische nach | |
und arbeitete die Spuren des Verfalls in seine Bilder ein, so dass die | |
Aufnahmen vom Bad im Fluss, vom Picknick oder vom Tennismatch Blasen | |
werden, von Streifen verunziert sind, sich bräunlich verfärben oder von | |
einem feinen Muster aus Rissen überzogen werden. | |
Wie "En construcción" kennt "Tren de sombras" viele Schatten und | |
Gespenster. Eine lange Sequenz besteht aus Einstellungen aus dem Inneren | |
des Landhauses, es ist Nacht, vorbeifahrende Autos beleuchten | |
augenblicksweise die Zimmer, die Muster der Gardinen und die ausgestopften | |
Tiere werfen Schatten an die Wände, wobei die toten Raubvögel und | |
Hirschköpfe zu furchterregenden, lebendigen Wesen werden. Der Film hat in | |
diesen Momenten etwas von einer spiritistischen Sitzung. Viele Filmemacher | |
und Cinephile, sagt Guerín in Nyon, hätten sich in ihrer Kindheit am Spiel | |
von Licht und Schatten nicht sattsehen können, es sei gewissermaßen eine | |
Urszene des Kinos, und er möchte "den Zuschauer einladen, wieder dieses | |
Kind zu sein". | |
Arbeitsbeziehungen verbinden ihn mit anderen in Barcelona lebenden | |
Autorenfilmern wie Pere Portabella und Mercedes Alvárez, die etwa für "En | |
construcción" den Schnitt besorgte; am renommierten Studiengang "Documental | |
de creación" (Schöpferischer Dokumentarfilm) an der Universität Pompeu | |
Fabra unterrichtet er. Auch Jonas Mekas, der große alte Herr des New Yorker | |
Avantgardefilms, ist ihm ein wesentlicher Bezugspunkt, wovon der | |
Videobriefwechsel "Correspondencia Jonas Mekas - J. L. Guerín" (2011) | |
Zeugnis ablegt. In diesem visuellen Gedankenaustausch freilich wird auch | |
deutlich, dass Guerín bisweilen etwas Beflissenes hat, dass seine Rekurse | |
auf Plinius den Älteren, auf Thoreau oder die Renaissancemaler im Vergleich | |
zur Lässigkeit des New Yorkers angestrengt wirken. In Mekas' Videobriefen | |
werden Knoblauchzehen roh verspeist, steht die Laphroaig-Flasche auf dem | |
Tisch, tanzt Mekas Sohn Sebastian mit der Katze im Arm, während Guerín | |
eloquent, aber auch etwas streberhaft die Bauprinzipien seiner Kurzfilme | |
erläutert. Und im Werkstattgespräch in Nyon fallen immer wieder Begriffe | |
wie "Offenbarung" oder "heilige Leinwand", die es gegen die Anfechtungen | |
der lautstarken Gegenwart zu schützen gelte. Auf die Frage, ob er im Kino | |
einen Ersatz für Religion sehe, antwortet Guerín: "Ich bin kein religiöser | |
Mensch, aber ich muss die Dinge ein wenig ritualisieren." Aber auch: "Ich | |
möchte keine schweren Filme machen." | |
Ein Film wie "Innisfree" (1990) hat denn auch tatsächlich nichts Schweres, | |
nichts Kunstreligiöses. Er ist eine Hommage an John Fords in Irland | |
gedrehten Film "The Quiet Man" aus dem Jahr 1952, mit John Wayne und | |
Maureen O'Hara in den Hauptrollen. Guerín reiste an die Orte im Westen | |
Irlands, wo "The Quiet Man" entstand. Die alten Dorfbewohner erinnern sich | |
noch gut an die Umstände des Drehs ("Ich habe mit Maureen OHara getanzt!", | |
schwärmt einer der Männer), und die Kinder erzählen Filmszenen nach. | |
Das Motiv des Fortgehens und Heimkehrens spielt eine große Rolle; Ford | |
selbst ist ja irischer Herkunft, genauso wie Maureen OHara, und John Waynes | |
Filmfigur kehrt er aus den USA in seinen Geburtsort zurück, auf der Suche | |
nach dem Haus, in dem er zur Welt kam. "Wie Odysseus auf der Suche nach | |
Ithaka", sagt Guerín. Die Iren, die in "Innisfree" zu Wort kommen, haben | |
allesamt Brüder und Schwestern, die in die USA gegangen sind, eine junge | |
rothaarige Frau ist eben erst zurückkehrt, nachdem sie in den USA als | |
Au-pair, als Kellnerin und in einer Hutfabrik gearbeitet hat. Ihr neuer Job | |
besteht darin, sich wie Maureen O'Hara anzuziehen, mit einem | |
Technicolor-blauen Kleid und einem Technicolor-roten Unterrock, und | |
Souvenirs zu "The Quiet Man" zu verkaufen. | |
In einer Szene hält ein alter Herr das Filmplakat in die Kamera. Sein | |
Finger deutet auf die Namen der Beteiligten, und bei jedem sagt er: "tot". | |
John Wayne - "tot", Maureen O'Hara - "tot", Barry Fitzgerald - "tot". | |
"Innisfree" freilich findet einen Weg, all diese Toten zum Leben zu | |
erwecken. Immer wieder etwa sieht man, wie eine alte Frau vor ihrer | |
Bauernkate sitzt und wie ein alter Mann Akkordeon spielt. Beide erwecken | |
den Eindruck, als seien sie die in die Jahre gekommenen Hauptfiguren aus | |
Fords Film, die nun auf ein langes, erfülltes Leben zurückblicken. "The | |
Quiet Man" wäre dann einfach immer weitergegangen, dem Schriftinsert "The | |
End" zum Trotz. | |
13 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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