# taz.de -- Tag der Befreiung: „Wir haben denen die Füße geküsst“ | |
> Vor 70 Jahren haben englische Soldaten das KZ Bergen-Belsen befreit, in | |
> dem 70.000 Menschen starben. Die Polin Barbara Müller hat überlebt. | |
Bild: Barbara Müller überlebte Bergen-Belsen. | |
taz: Frau Müller, erinnern Sie sich an den 1. September 1939? | |
Barbara Müller: Natürlich! Mein Vater wollte gerade zur Arbeit gehen und | |
hatte wegen der Nachrichten das Radio angestellt. Da hörte er, dass die | |
Deutschen in Polen einmarschiert waren. Wir wohnten damals im kleinen | |
Städtchen Tomaszów bei Lódz. Wir sind dann nach Warschau zu Verwandten | |
gefahren, weil mein Vater glaubte, dass wir da sicherer wären. Er irrte | |
sich: Kurz darauf wurde er auf offener Straße von Deutschen erschossen. | |
Warum? | |
Weil er Pole war. Es war Krieg, und Hitler hatte gesagt, die Polen wären | |
ein primitives Volk, die könnte man vernichten. An diesem Tag war ich mit | |
meinem Vater einkaufen, er hielt mich an der Hand. Dann fiel der Schuss, | |
und mein Vater lag da. Ich habe geschrien, er wurde ins Krankenhaus | |
gebracht, aber das haben die Deutschen kurz danach bombardiert. Alle wurden | |
verschüttet, vom Krankenhaus blieb nur eine Ruine. Ich war 14. Wir drei | |
Schwestern und meine Mutter gingen zurück nach Tomaszów. Aber auch da | |
drohte Gefahr. | |
Inwiefern? | |
Die Deutschen suchten Zwangsarbeiter. Also haben sie aus Polen und später | |
aus den anderen besetzten Ländern Leute geholt. | |
Auch Sie? | |
Ja. Dabei blieben wir Kinder eigentlich immer im Haus, denn wir wussten, | |
dass die Deutschen die Wohnungen durchsuchten. Aber eines Tages lud mich | |
eine Nachbarin zu sich ein. Meine Mutter war dagegen, aber ich ging. Später | |
sind wir Mädchen ins Kino, das war proppenvoll. Auf einmal ging das Licht | |
an, und es hieß: Alle raus! SS-Leute haben uns alle verhaftet. Als unser | |
Zug am nächsten Morgen abfuhr, liefen die Mütter hinter uns her und | |
weinten. Der Zug fuhr die ganze Nacht durch – bis ins damals deutsche | |
Breslau, das heute polnische Wrocław. Ich kam zu einer Familie in einer | |
kleinen Stadt auf dem Land. | |
Worin bestand Ihre Arbeit? | |
Der Mann stellte Zinkwannen her, und ich musste in Haus und Garten | |
arbeiten. Geschlafen habe ich in einem Zimmer auf dem Boden, mit Bett und | |
einem Wasserkrug zum Waschen. Im Winter war das Wasser gefroren, sodass ich | |
mich monatelang nicht waschen konnte. Ich war total verlaust und wollte nur | |
nach Hause! Irgendwann habe ich ein paar Sachen gepackt und habe mich | |
nachts um zwei Uhr an den Bahnhof gestellt. Aber da fährt doch kein Zug! | |
Und auf dem Land kennt doch jeder jeden! Der Mann am Fahrkartenschalter hat | |
mich erkannt und die Polizei gerufen. Ich wurde verhaftet und zu einem | |
halben Jahr schwerer Zwangsarbeit verurteilt. | |
Welche? | |
Ich musste Deiche an der Oder bauen. Danach kam ich in eine Breslauer | |
Fabrik, wo ich eine Maschine für Schraubengewinde bedienen musste. | |
War die Arbeit gefährlich? | |
Die Arbeit selbst nicht, aber wenn wir Ausschuss produzierten, konnten sie | |
uns erschießen. | |
Ist das vorgekommen? | |
Gesehen habe ich es nicht, aber wir hatten alle Angst. | |
Haben Sie mal Ausschuss produziert? | |
Ja, ich bin einmal auf der Toilette eingeschlafen, weil ich so kaputt war, | |
und die Maschine hat Ausschuss produziert. Da kam ein Mädchen und sagte: | |
„Du schläfst hier, die bringen dich um!“ Ich bin schnell zurückgelaufen, | |
und ein Kollege half mir, das Missgeschick zu vertuschen. Später habe ich | |
in der Küche gearbeitet. | |
Und mehr zu essen bekommen. | |
Ja. Und geschlafen haben wir bei zwei Küchenmädchen in der Wohnung darüber, | |
in einem kleinen Zimmer. Aber im August 1944 kam der „Warschauer Aufstand“, | |
den die Deutschen brutal niederschlugen. Das wusste ich damals nicht, aber | |
kurz danach holten SS-Leute uns Polinnen ab und führten uns drei verhaftete | |
Polen vor: Ob wir die kennen. Wir kannten die nicht. Da schlug der SS-Mann | |
uns alle mit einem Gummiknüppel. | |
Danach kamen Sie ins KZ Ravensbrück, wo die Deutschen an den Häftlingen | |
grausame medizinische Versuche machten. Haben Sie das gesehen? | |
Ja. Einmal hörte ich ein Wimmern. Ich ging in die Krankenbaracke und sah | |
drei junge Polinnen, an deren aufgeschnittenen Beinen sie Versuche machten. | |
Das war schrecklich. | |
Haben Sie irgendwann geahnt, dass der Krieg zu Ende ging? | |
Ja. In Salzgitter-Bad, wo ich später war, habe ich in einer Schraubenfabrik | |
die Kontrollwaage bedient. Aber mit der Zeit wurden die Schrauben gar nicht | |
mehr an die Front geliefert. Da habe ich geahnt, dass der Krieg zu Ende | |
ging. Irgendwann mussten wir raus, auf LKWs – und sahen, wie die Deutschen | |
alle Dokumente verbrannten. Da wussten wir, dass sie Beweise vernichten | |
wollten. Als sie fertig waren, wurden wir Häftlinge in offenen Viehwaggons | |
nach Celle gefahren. | |
Sie waren bei der „Celler Hasenjagd“ dabei, als auch Zivilisten Häftlinge | |
ermordeten. | |
Ja. Das fing so an, dass unser Zug erstmal endlos lange auf dem Gleis | |
stand. Es war ein schöner Sommertag mit blauem Himmel. Dann kamen die | |
Flieger. Wie kleine Silbervögel in der Sonne. Wir standen alle da, guckten | |
hoch und wussten: Das ist unser Tod. Zuerst bombardierten sie die Fabriken, | |
dann die Waggons mit den männlichen Häftlingen. Da haben unsere Aufseher | |
die Tür aufgerissen, die wollten ja selbst überleben. Ich weiß nicht, wie | |
ich rausgekommen bin, jedenfalls bin ich in den Pinienwald gelaufen. | |
Und die anderen? | |
Viele sind zu den Wohnungen gerannt, ich hatte aber Angst, weil ich ja die | |
Häftlingsuniform trug. Und viele Celler haben wirklich die Polizei geholt, | |
die die Häftlinge gleich erschoss. Da lagen überall Tote. Als alles vorbei | |
war, bin ich zum Zug zurückgegangen, und wir marschierten nach | |
Bergen-Belsen. Da haben die Deutschen in den letzten Kriegstagen Häftlinge | |
aus allen KZ hingebracht. | |
Ist auf diesem „Todesmarsch“ etwas passiert? | |
Nein, aber wenn die älteren Frauen nicht mehr laufen konnten, haben wir | |
Jüngeren sie untergefasst. Sonst wären sie erschossen worden. | |
Was erwartete Sie in Bergen-Belsen? | |
Da kamen uns Leichen entgegen. Wir sahen ja noch normal aus, aber die waren | |
Skelette, total verhungert. Sie haben uns richtig überfallen und mir meine | |
Scheibe Brot weggenommen. Ich hatte Typhus und wusste, dass ich auch bald | |
so aussehen würde. | |
Wie sah es im KZ aus? | |
Es war riesig, und da lagen bergeweise Verhungernde und Tote. Wir kamen in | |
eine Baracke, in der es nur Sitzplätze gab. Gelegen haben nur Tote und die | |
wimmernden Sterbenden. Wir Neuen hatten nicht einmal Sitzplätze, denn das | |
Lager war proppenvoll. Und wenn wir merkten, dass einer stöhnte und dann | |
still wurde, wussten wir, dass er tot war. Dann haben wir ihn beiseite | |
gelegt. Wir selbst haben auch auf den Tod gewartet. Es gab kein Essen, kein | |
Trinken, gar nichts. Wenn wir die Baracken verließen, wurden wir | |
beschossen. Zuerst von der SS, und als sie abgehauen waren, von Ungarn, die | |
mit Hitler paktierten. | |
Wie lange waren Sie dort? | |
Drei, vier Wochen. Sonst hätte ich das nicht überlebt. | |
Und wie haben Sie die Befreiung am 15. April 1945 erlebt? | |
Da haben die Engländer durchs Mikrophon gesagt: Ihr seid befreit, aber wir | |
kommen erst in drei Tagen, wenn wir gegen Typhus geimpft sind. Dann kamen | |
sie. Wir haben denen die Füße geküsst! Wir haben es nicht geglaubt! | |
Und es gab zu essen. | |
Ja. Die Soldaten – viele emigrierte Polen in englischer Uniform – haben uns | |
kleine Dosen mit Milchreis gegeben und gesagt: Jede Stunde einen Teelöffel. | |
Wir hatten keine Uhr, aber ich habe versucht, es einzuhalten. Einige | |
Freunde haben alles sofort aufgegessen und sind daran gestorben. Das war | |
grausam. | |
Warum sind Sie nach Kriegsende in Deutschland geblieben? | |
Nach Polen wollte ich nicht. Das war inzwischen russische Besatzungszone, | |
und ich wusste nicht, was sie mit mir tun würden. Ich hatte ja – wenn auch | |
unfreiwillig – für die Deutschen gearbeitet. Mit meinen Freunden nach | |
Kanada wollte ich auch nicht, denn ich hatte Sehnsucht nach meiner Mutter. | |
Ich blieb also in Hannover, heiratete, bekam meinen Sohn. Und schrieb immer | |
wieder nach Polen, vergebens. Später haben Bekannte meine Mutter ausfindig | |
gemacht. 1958 haben wir uns wiedergesehen, nach 17 Jahren. Wir haben so | |
geweint. | |
Wussten Ihre Verwandten, dass Ihr Mann Deutscher ist? | |
Zuerst habe ich gesagt, er sei Engländer. Ich konnte doch nicht sagen, dass | |
ich einen Deutschen geheiratet habe! Mein Vater war von Deutschen | |
erschossen worden. Meine Cousins sind im KZ umgekommen. Mein Onkel wurde | |
zusammengeschlagen und ist daran gestorben. Und ich heirate einen | |
Deutschen... | |
War das für Sie selbst kein Problem? | |
Eigentlich hatte ich mir geschworen, nie einen Deutschen zu heiraten. Für | |
mich waren alle Deutschen Verbrecher und Mörder. Aber mein Mann war nicht | |
an der Front, er hat keinen umgebracht. Er hat als Soldat Telegramme | |
ausgefahren. Aber als meine Verwandten erfuhren, dass er Deutscher ist, | |
haben sie erstmal Abstand genommen. | |
Blieb das so? | |
Nein. Als sie sahen, dass wir bescheiden leben und all unser gespartes Geld | |
nach Polen schicken, haben sie ihn sehr geschätzt. | |
Inzwischen nehmen Sie regelmäßig an Veranstaltungen in der Gedenkstätte | |
Bergen-Belsen teil. Was empfinden Sie dort? | |
Es ist für mich, als wenn ich erst heute rausgekommen wäre. Da liegen meine | |
ganzen Freunde begraben, ganz Europa liegt da. Das sind Menschen, die haben | |
genauso gelitten wie ich, und ich weine um die jungen Leute. Wenn ich | |
hinkomme, ist es, als wenn ich sage: „Ich besuche euch. Ich bin schon so | |
alt, aber ich denke immer an euch.“ | |
Haben Sie Ihrem Sohn Ihre Geschichte erzählt? | |
Ich habe ihm lange nicht gesagt, dass ich Polin bin. Er ist 1952 geboren, | |
und während seiner Kindheit waren viele Nazis noch im Amt, die Hitlers | |
antipolnische Propaganda noch im Kopf hatten. Darum habe ich ihm auch kein | |
Polnisch beigebracht. Wenn sie in der Schule erfahren hätten, dass seine | |
Mutter Polin ist, hätten sie ihn vielleicht als „Polacken“ beschimpft. | |
Vielleicht hätte er nicht studieren können. | |
Er wusste nicht, dass Sie Polin sind? | |
Er wusste, dass ich anders sprach, aber er hat nie gefragt. Vor fünf | |
Jahren, als wir zu Besuch in Polen waren, hat er zum ersten Mal gefragt, wo | |
ich verhaftet wurde. Ich bin mit ihm in das Kino gegangen, das noch steht, | |
und habe ihm alles gezeigt. Da hat er bitterlich geweint. | |
24 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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