# taz.de -- Generationenepos „Ahnen“: Der familiäre Scheinriese | |
> Anne Weber erzählt skrupulös von einem nervösen Patriarchen des 19. | |
> Jahrhunderts. Dieser Mann ist ihr deutschtümelnder Urgroßvater. | |
Bild: Die Autorin bei der Frankfurter Buchmesse 2012. | |
Wo ein Ahnen ist, ist meist das Raunen nicht fern; und wenn es um die Ahnen | |
geht, wird gern ein „raunender Beschwörer des Imperfekts“ aus dem | |
Thomas-Mann-Archiv entstaubt, der den Ahnungen um die Vorfahren in den | |
kausalen Gewissheiten einer Erzählung anschauliche Konturen zu verleihen | |
hat. Im Titel dieses schmalen Buchs, der bedeutsam prädikatlos das Ahnen | |
und die Ahnen verschmilzt, hallen die weiten Räume des Epos wider, und | |
seine patriarchale Hauptfigur ist von einer abrahamähnlichen Statur, die | |
mit jedem Schritt auf der Weltenbühne wie von selbst das geschichtliche | |
Panorama weiter entrollt. | |
Dieser Florens Christian Rang ist vom heiligen Ernst mythischer | |
Gründerfiguren bestimmt. Doch weil er nicht am Anfang der Zeiten steht, | |
sondern mit den Turbulenzen des wilhelminischen Gründerzeit geht, wirkt | |
dieser Ernst weniger selbstverständlich naiv als vielmehr heillos heroisch | |
verbissen. Und wenn er im „Deutschtum“ eine „neue Menschenliebe“ sieht,… | |
als „Liebe ohne Barmherzigkeit“ die Welt beglücken solle, dann zeichnet | |
dieser Sucher eines nach-nietzscheschen „Gottesgrunds“ auch die Abgründe | |
des 20. Jahrhunderts vor. | |
Faustisch Heroisches und frömmelnd Kasteiendes wirken gleichermaßen in | |
dieser Figur, in deren Namen deutsche Kathedergelehrsamkeit genauso | |
anklingt wie das protestantische Pfarrhaus, und der Leser staunt, wie | |
umfassend dieser nervös zwischen Größenwahn und Zweifel schwankende | |
Theologe und politische Schriftsteller die virulenten Themen seiner Zeit | |
aufspürt, die metaphysische Verlorenheit, den Nationalismus, Rassismus, bis | |
zur Eugenik. | |
Noch mehr staunt er aber, wie der historische Florens Christian Rang | |
(1864–1924), der, längst vergessen, das Zeug hätte zum Protagonisten eines | |
breit angelegten geistesgeschichtlichen Romans, der Erzählerin von Anne | |
Webers Buch begegnet. Statt introspektiv sein immenses fiktionales | |
Potenzial zu entfalten, rückt sie den Intellektuellen, der Hugo von | |
Hofmannsthal und Gustav Landauer kannte und mit Gershom Scholem und Walter | |
Benjamin befreundet war, in eine Ferne, die ihn klein erscheinen lässt wie | |
ein Meervögelchen, das am Strand entlang dem Saum der Wellen trippelt. | |
Nach einer solchen Strandläuferart nennt sie ihn Sanderling, und dass man | |
beim ersten Lesen hinter einem Druckfehler das Wort „Sonderling“ vermutet, | |
nimmt Anne Weber gewiss gern in Kauf: Einen eigensinnigen Geist, der | |
querköpfig den Zeitströmungen folgt, erahnt sie in dem Mann, der ihr | |
Urgroßvater ist; und der skrupulöse Eigensinn, mit dem Anne Weber, als | |
deutsch und französisch schreibende Autorin selbst ein nur mit | |
Georges-Arthur Goldschmidt vergleichbarer schriftstellerischer Sonderling | |
an der eher peripheren Schnittstelle zweier Literaturen, das verstreute | |
Werk Rangs über Gott, Goethe, das deutsche Wesen und die zu genesende Welt | |
ihrem Text einverleibt, lässt die schreibende Urenkelin zur zweiten | |
Hauptfigur eines insistierenden Generationendisputs werden, der dunklen | |
Ahnungen keine raunenden Erzählfluchten gönnt. | |
## Zick-Zack-Lebenslauf | |
Sanderling: Der Name mag zärtlich-ironischen Respekt für eine | |
schutzbedürftige Spezies vermitteln, aber auch den Verdacht auf eine | |
respektlose Schrumpfung eines familiären Scheinriesen wecken, und aus dem | |
metaphorische Spiel mit Groß und Klein, der bis zur genealogischen | |
Umkehrung führt, wenn die in historischer Perspektive altersweise Urenkelin | |
in dem Patriarchen ein ahnungsloses Kind des 19. Jahrhunderts erblickt, | |
gewinnt der Text seine vibrierende Spannung. Webers Genrebezeichnung | |
„Zeitreisetagebuch“ gaukelt dabei eine lineare Klarheit vor, die von der | |
mehrfach besetzten Beziehung Rang-Weber konterkariert wird. | |
Wenn die Schriftstellerin Weber in dem privatgelehrten Pastor ihren | |
Urgroßvater sucht, der auf einer Mission in Polen über die Tötung von | |
Behinderten nachdachte und dessen Nachkommen das uneheliche Kind Anne als | |
Rang-unwürdig ansahen, ist ihr so wenig eine zügige Bewegung von A nach B | |
möglich, wie im Zickzack-Lebenslauf des von einer intellektuellen Unruhe | |
beherrschten Ahnen einen Fluchtpunkt aufzuspüren. | |
Doch wenn Weber von ihrem Wohnort in der Normandie über die | |
Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar zum letzten Wohnort Rangs reist, dem | |
„Gottesgrund“ im fachwerkidyllischen Braunfels an der Lahn, entstehen dabei | |
nicht nur tastend genaue Miniaturen von Annäherungen an Orte, die sich | |
weigern, ihre Geschichte auszuplaudern. Es schält sich als Konstante auch | |
ein bei Rang wiederentdeckter Begriff heraus, der Weber mit der | |
protestantischen Ethik historisiert scheint. | |
Das „Gewissen“, das bekanntlich geprüft werden will, adoptiert der | |
verstoßene Nachkömmling Anne Weber vom Familienpatriarchen, um im prüfenden | |
Schreiben beiden gerecht werden zu können: dem Intellektuellen, dessen | |
Geist laut Benjamin vom Wahnsinn zerklüftet war, und der Schriftstellerin, | |
die nach den Verheerungen des 20. Jahrhunderts ihren Ort in der Geschichte | |
und der eigenen Familie zu bestimmen sucht. | |
Einem Exerzitium gleicht dieser großartige, allein durch Absätze | |
gegliederte Text, der seine künstlerische Freiheit aus der moralischen Last | |
gewinnt, die jedem Wort aufgebürdet ist. Eine geschlossene Schreibbewegung | |
ins völlig Offene ist Anne Weber mit „Ahnen“ gelungen, eine selbstbewusst | |
angreifbare Belastungsprosa, die weder die Mühen ihrer Entstehung kaschiert | |
noch Formulierungen zensiert, die an den Betroffenheitsjargon aus Webers | |
Jugend erinnern. Nicht jedes Wort sitzt, ein jedes hat Gewicht, und dieses | |
Vertrauen in Sprache macht „Ahnen“ zu einem literarischen Glücksfall. | |
5 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Hans-Jost Weyandt | |
## TAGS | |
Nationalismus | |
Euthanasie | |
Patriarchat | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
George-Arthur Goldschmidts neues Buch: Die Sprache des Todes | |
Goldschmidt schreibt ein Deutsch von großer Schönheit. Sein neues Werk „Vom | |
Nachexil“ kreist um Vertreibung und Heimweh. |