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# taz.de -- Ökonom über Bruttoinlandsprodukt: „Eine erfundene Realität“
> Philipp Lepenies erklärt die Widersprüche des BIP, seine Bedeutung im
> Kalten Krieg und die Blindheit des Messinstruments gegenüber
> Einkommensungleichheit.
Bild: Reich, deutsch oder einfach nur an der Realität vorbei?
taz: Herr Lepenies, das Bruttosozialprodukt wurde als Kriegswaffe erfunden.
Warum hat sich diese Kennziffer auch im Frieden durchgesetzt?
Philipp Lepenies: Die USA standen nach dem Krieg vor der Frage, wie man
Millionen von Soldaten wieder in die zivile Wirtschaft integriert. Also war
man weiterhin an der Expansion der Produktion interessiert – und benötigte
dafür eine Kennziffer.
Das erklärt, warum die USA am Bruttoinlandsprodukt, dem BIP, festhielten.
Wieso aber war es weltweit so erfolgreich?
Ein Grund war der Marshallplan. Die Amerikaner wollten ungefähr wissen, wie
hilfsbedürftig die einzelnen Empfängerländer waren. Also ließen sie überall
das BIP ausrechnen. Sie setzten damit einen Standard für die gesamte
westliche Welt.
Der Marshallplan lief nicht ewig.
Aber damit war die Idee geboren, dass man die Wirtschaftsleistung einzelner
Länder vergleichen kann. Man begann, wenn man so will, die ganze Welt
völlig neu zu sehen, nämlich durch die Brille des BIP. Dies ist bis heute
so und eigentlich ziemlich ironisch. Denn einer der Erfinder des BIP, der
spätere Nobelpreisträger Simon Kuznets, wehrte sich immer vehement dagegen,
Länder anhand des BIP zu vergleichen. Die realen wirtschaftlichen
Strukturen seien jeweils zu unterschiedlich und ließen sich in der
aggregierten Zahl des BIP nur unzureichend abbilden. Man würde also
vergleichen, was nicht vergleichbar sei.
Damit ist aber noch nicht erklärt, warum man so obsessiv daran interessiert
war, das Wachstum zu messen, indem man das BIP ausrechnete.
Ein wesentlicher Grund war der Kalte Krieg. Es gab eine eigene Abteilung
beim US-amerikanischen Geheimdienst CIA, die nur damit beschäftigt war, das
Bruttosozialprodukt der Sowjetunion zu schätzen. Heute kann man es sich
kaum noch vorstellen, aber damals herrschte große Verunsicherung in den
USA, ob man die Systemkonkurrenz mit dem Sozialismus gewinnen würde. Man
denke nur an die erste sowjetische Atombombe. Oder an die technologischen
Fortschritte der Sowjets in der Raumfahrt, was dann 1957 im
„Sputnik-Schock“ kulminierte. Zudem gab es keine glaubhaften offiziellen
Statistiken aus der Sowjetunion, sodass die USA nicht genau abschätzen
konnten, wie weit die UdSSR war. Dies alles führte dazu, dass die westliche
Welt das Wachstum als eine geopolitische Überlebensnotwendigkeit sah.
Seitdem es das BIP gibt, reißt die Kritik an dieser Kennziffer nicht ab.
Der Ökonom Joseph Schumpeter fand das BIP völlig überflüssig. Es sei „ein
Produkt der Einbildung“, das gar nicht existieren würde, wenn Statistiker
es nicht erschaffen hätten.
Dieser Einwand ist richtig und falsch zugleich. Das BIP ist natürlich nur
eine Berechnungskonvention, eine erfundene Realität. Aber sie nähert sich
wie jede Statistik der Wirklichkeit an. Die Messungen sind zwar imperfekt,
aber sie liefern Ergebnisse, von denen die Politik glaubt, dass sie
nützlich seien.
Der Informationswert des BIP ist beschränkt: Es misst nur Waren und
Dienstleistungen, die einen Marktpreis haben. Hausarbeit oder die Betreuung
der eigenen Angehörigen kommt nicht vor.
Dieser Einwand ist so alt wie das BIP. Schon der britische Ökonom Pigou
witzelte: „Wenn ein Mann seine Haushaltshilfe heiratet, verringert sich das
BIP.“ Ein weiteres Problem ist, dass es wie Wachstum wirkt, wenn Schäden
wie etwa Umweltverschmutzung wieder beseitigt werden.
Es gab schon viele Versuche, das BIP durch eine neue Kennziffer zu
ersetzen. Warum ist dies bisher immer gescheitert?
Das BIP hat große Vorteile: Es bündelt eine hohe Informationsdichte nach
transparenten Kriterien und lässt sich kurzfristig erfassen. Es ist mühelos
möglich, Zahlen für jedes Quartal zu erstellen. Zudem kann es die Daten der
Vergangenheit mit Prognosen für die Zukunft verbinden. Im Gegensatz zu
vielen Alternativkonzepten ist das BIP von der Politik akzeptiert, weil es
in der Vergangenheit auf unterschiedliche Weise nützlich war. Das ist
einmalig und macht es allen Alternativen schwer.
Dennoch beschleicht viele Menschen das Gefühl, dass sich Wohlstand und
Wachstum entkoppeln und dass das BIP eine nutzlose Zahl ist.
Darin spiegelt sich die ganze Tragik vom BIP. Im Zweiten Weltkrieg wurde
eine folgenreiche Entscheidung getroffen: Man legte mit dem BIP den Fokus
auf die Ausweitung der Produktion. Im Krieg war das sinnvoll, weil man
Unmengen an Panzern, Flugzeugen, Schiffen und Waffen herstellen musste.
Nach dem Krieg wollte man dann die Bürger schnell mit Basisgütern wie
Kleidung, Möbeln und Wohnraum versorgen. Da sich im Westen die materielle
Lebensqualität unglaublich schnell verbesserte, glaubte man irrigerweise,
das BIP sei ein guter Indikator für Wohlstand. Fragen der
Verteilungsgerechtigkeit blendete die Politik bewusst aus. Aber das kann
natürlich nicht ewig gut gehen. Wie es scheint, rächt es sich gerade, dass
die Einkommensungleichheit aus dem Fokus geriet.
1 May 2015
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
## TAGS
Marshallplan
Kalter Krieg
Wachstum
Bruttoinlandsprodukt
Euro-Krise
Import
Energie
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