| # taz.de -- Epos „Horcynus Orca“: Verloren an der Straße von Messina | |
| > Stefano D’Arrigos viel gelobter Roman bewegt sich in einem eigenen Tempo. | |
| > Will man nicht kapitulieren, muss man ihn als „Genießertext“ lesen. | |
| Bild: An dieser idyllischen Meerespassage soll der Held des Romans verschollen … | |
| Eine Überraschung war es schon, als mir das Buch vor einigen Monaten | |
| ausgehändigt wurde. Von einem Meisterwerk war die Rede, von dem niemand | |
| zuvor gehört hatte. Einen kleinen Schrecken bekam ich beim Anblick der eng | |
| bedruckten Seiten. Und vom Gewicht, das sie in ihrer Gesamtheit aufbringen. | |
| 1.472 Gramm, das entspricht exakt einem Gramm pro Seite. | |
| Nicht dass umfangreiche Romane an sich Unwillen hervorrufen würden. In | |
| diesem Fall war da nur so ein leichtes Unbehagen. Und das Buch, kurz | |
| angelesen, wanderte erst einmal zwischen Nacht- und Schreibtisch hin und | |
| her. | |
| Die Geschichte zu „Horcynus Orca“, so der Titel, machte dann aber doch | |
| neugierig. Es ist das bekannteste Werk des italienischen Schriftstellers | |
| Stefano D’Arrigo, der ansonsten bloß einen weiteren Roman und einen | |
| Gedichtband vollendet hat. Vierzig Jahre lang gab es „Horcynus Orca“ | |
| lediglich auf Italienisch zu lesen, da die Kunstsprache D’Arrigos, in die | |
| zahlreiche sizilianische Wendungen eingeflossen sind, als unübersetzbar | |
| galt. | |
| Ungewöhnlich ebenso die Entstehungsdauer des Werks. Zwischen 1956 und 1957 | |
| schrieb D’Arrigo eine erste Fassung von 600 Seiten. Mit dem | |
| unveröffentlichten Manuskript sorgte er für so viel Aufmerksamkeit, dass er | |
| 1959 für zwei Episoden daraus mit dem Literaturpreis der Fondazione Cino | |
| del Duca ausgezeichnet wurde. Im Jahr 1960 erschienen diese Auszüge in der | |
| italienischen Literaturzeitschrift Il Menabò, herausgegeben von den | |
| Schriftstellern Italo Calvino und Elio Vittorini – Letzterer gehörte zur | |
| Jury des Preises. | |
| ## 14 Jahre überarbeitet | |
| Ein Jahr später erhielt D’Arrigo von seinem Verlag Mondadori die | |
| Korrekturfahnen zur letzten Durchsicht. Mit der Überarbeitung sollte es | |
| dann noch einmal 14 Jahre dauern, sodass das Buch erst 1975 in einer um das | |
| Doppelte erweiterten Form gedruckt wurde. Zum Klassiker wurde das Buch | |
| allerdings nicht: D’Arrigo ist in Italien bis heute ein Autor, der kaum zur | |
| Grundausstattung bildungsbürgerlicher Bibliotheken gehört. | |
| Für die erste Übertragung des Werks überhaupt benötigte der Übersetzer | |
| Moshe Kahn dann acht Jahre. Der sprachlichen Eigenheiten von „Horcynus | |
| Orca“ wegen habe er das Buch weniger übersetzt als „umgestaltet“, so Kahn | |
| im Nachwort. Seine Arbeit habe er als „Fährmannstätigkeit zwischen zwei | |
| entfernten Ufern“ begriffen. | |
| Maritime Vergleiche werden bei dem Buch gern bemüht, und sie werden durch | |
| die Handlung allemal begünstigt. Die letzten acht Tage im Leben des | |
| Matrosen ’Ndrja Cambrìa bilden den Rahmen der Ereignisse, die ersten vier | |
| davon werden im ersten Halbsatz benannt, während die restlichen vier Tage | |
| die verbleibenden 1.472 Seiten füllen. Es ist Oktober 1943, und ’Ndrja | |
| Cambrìa, der von seiner Marineeinheit desertiert ist, will vom | |
| italienischen Festland nach Sizilien in sein Heimatdorf gelangen. Er wird | |
| sein Ziel nicht erreichen. | |
| Am vergangenen Wochenende des 1. Mai war endlich der geeignete Moment zur | |
| vertieften Lektüre gekommen. Mehrere kleinere Anläufe zuvor waren daran | |
| gescheitert, dass sich kein rechter Einstieg finden wollte. Man fühlt sich | |
| als Leser am Anfang ein bisschen wie der Protagonist, der die Küste | |
| Kalabriens entlangwandert, weil er eine Fähre oder eine andere Möglichkeit | |
| sucht, um die Straße von Messina zu überqueren, die Meerenge zwischen | |
| Italien und Sizilien, in der nach griechischer Mythologie die | |
| Meeresungeheuer Skylla und Charybdis wüten und so für unberechenbare | |
| Strömung sorgen. ’Ndrja Cambrìa schreitet durch eine fremd anmutende Welt, | |
| trifft als Erstes auf eine Gruppe von Frauen, die ihn dazu überreden | |
| wollen, sich zunächst mit der einen, dann mit der anderen von ihnen zu | |
| vereinen. Ohne Erfolg. | |
| ## Mussolini als Nachttopf | |
| ’Ndrja Cambrìa bleibt eine Weile bei den Frauen stehen, zögert, verteidigt | |
| seine asketische Haltung, die sich insgeheim der Angst vor | |
| Geschlechtskrankheiten verdankt. Die Begegnung – vielleicht ein Vorgang von | |
| 20, 30 Minuten – wird 70 Seiten lang in kleinste Wahrnehmungen zerdehnt, | |
| und auch die Dialoge umkreisen die immergleichen Fragen in einer | |
| Ausführlichkeit, die weniger an den ruhigen Rhythmus des Meeres als an das | |
| langsame Aufhäufen einer Endmoräne denken lässt. | |
| Danach zieht ’Ndrja Cambrìa weiter zur nächsten seltsamen Begegnung mit | |
| einer Mutter und ihrer Tochter, lässt sich ihre Sorgen um den mutmaßlich | |
| wahnsinnigen Sohn schildern, die ihrerseits etwas Wahnhaftes an sich haben, | |
| bis er sie gleichfalls ihrem Schicksal überlässt, immer auf der Suche nach | |
| einer Überfahrt. | |
| Man muss sich sehr einlassen auf dieses Tempo, auf die oft nur angedeuteten | |
| Beobachtungen und Ereignisse, aus denen sich immer wieder konkrete Momente | |
| herauslösen, die gern mal derb ausfallen. Eine der Prostituierten etwa, die | |
| geistig verwirrt ist, benutzt zum Pinkeln bevorzugt einen | |
| Mussolini-Gipskopf, weil der sie in umgedrehter Position an einen Nachttopf | |
| erinnert – Mussolini war im Juli 1943 festgenommen und inhaftiert worden. | |
| ## Sizilianisch inspirierten Kunstworten | |
| Diese anschaulichen Dinge werden bei D’Arrigo – oder Kahn – von den | |
| überwiegend sizilianisch inspirierten Kunstworten punktiert, statt | |
| „kommentiert“ heißt es „kommentariert“, Frauen werden konsequent als | |
| „Feminotinnen“ bezeichnet. Diese Ausdrucksweise erzeugt kleinere | |
| Widerstände beim Lesen, größere Schwierigkeiten jedoch bereitet der | |
| Erzählfluss als solcher, der regelmäßig ins Stocken gerät, ziellos kreiselt | |
| und mitunter für ernsthafte körperliche Erschöpfung sorgt. | |
| Irgendwann am zweiten Tag dann der verzweifelte Griff zu Roland Barthes’ | |
| „Die Lust am Text“, um die Leseerfahrung genauer auf den Begriff zu | |
| bringen. Am ehesten könnte man, sofern man Barthes folgt, „Horcynus Orca“ | |
| als Beispiel für einen „Text der Wollust“ oder des „Genießens“ betrac… | |
| Anders als ein „Text der Lust“, der „befriedigt, erfüllt, Euphorie erreg… | |
| ist ein Text der Wollust einer, der „Unbehagen erregt (vielleicht bis hin | |
| zu einer gewissen Langeweile)“ und das Verhältnis des Lesers zur Sprache in | |
| eine Krise bringt. | |
| Zumindest in dem Sinne, dass das Lesen selbst Hindernisse aufwirft. Texte | |
| wie „Horcynus Orca“ kann man womöglich nur eingeschränkt mit „Befriedig… | |
| lesen, man muss sie „genießen“, die Heftigkeiten des Texts ertragen: Man | |
| muss sich ihren Besonderheiten ausliefern, ihre Bewegungen mitvollziehen, | |
| zur Not der inneren Weigerung zum Trotz – oder vor dem Text kapitulieren. | |
| 9 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
| ## TAGS | |
| Sizilien | |
| Marine | |
| Roman | |
| Lyrik | |
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