# taz.de -- Gewalt und Vorurteil in einem Dorf: Die Stille von Seulingen | |
> Eine Familie zieht in ein Dorf. Aus Außenseitern werden Eindringlinge. Am | |
> Ende schlagen zwei Männer fast einen Rentner tot. Eine Motivsuche. | |
Bild: Das ehemalige Wohnhaus der Familie Reinke in Seulingen. Sie sind mittlerw… | |
SEULINGEN taz | Wie sich das Böse im Dorf festsetzen konnte, weiß keiner | |
mehr genau. Fest steht nur, wie es endete: Ein Mann liegt vor seinem Haus | |
an der Hauptstraße von Seulingen im Untereichsfeld, südliches | |
Niedersachsen. Ein Rentner, 69 Jahre. Aus den Wunden an seinem Kopf rinnt | |
Blut. Ringsum die Nachbarn jubeln und grölen. Das Böse ging um in | |
Seulingen, und das Böse musste weg. | |
Nun sitzt Christa Reinke* in ihrer Küche. Sie raucht. Die Worte bleiben ihr | |
weg. Statt zu reden, steht sie auf, nimmt die Plastiktüte vom Kühlschrank | |
und stellt eine Arzneipackung nach der anderen auf den Tisch. 16 Tabletten | |
muss ihr Mann jeden Tag schlucken, sagt sie: „Vorher hat er alles machen | |
können. Jetzt kann er gar nichts mehr.“ Nicht alleine essen, nicht laufen, | |
nicht aufs Klo gehen. „Er sagt selber zu sich: ’Ich bin ein | |
Krüppelschwein.‘“ | |
Die Geschichte, die Helmut Reinke* zum Pflegefall gemacht hat, wirkt wie | |
ein dunkles Sittenstück, Provinztheater. Es zeigt, wie nah Angst und Hass | |
einander sind und wie schnell sich eine Gemeinschaft zu einer Front | |
verschließen kann, der jedes Mittel recht ist, auch die Gewalt. | |
Sonntag, 1. September 2013. Es ist tief in der Nacht, als sich zwei Cousins | |
aus dem Ort noch einmal aufmachen, Handwerker, 31 und 27 Jahre alt, | |
angesehene Bürger. Sie kommen von einem Musikfest, da wurde über Reinkes | |
gesprochen. „Man traut sich gar nicht mehr vor die Tür“, sollen die Frauen | |
gesagt haben. Nun steuern die Cousins auf das Haus am Ende der Hauptstraße | |
zu. Sie haben Feuerwerkskörper und Baseballschläger dabei. | |
## „Komplett Asoziale“ | |
Eineinhalb Jahre sind vergangen; die Reinkes sind weggezogen. Klares Licht | |
fällt über den Dorfkern, über gepflegte Fachwerkhäuser und Weiden, auf | |
denen satte Schafe dösen. Die Apfelbäume blühen. Im Gasthof „Zum Krug“ g… | |
es heute Forelle. | |
Neben dem Haus, in dem die Reinkes wohnten, steigt ein junger Landwirt mit | |
blonden Haaren vom Trecker. Sascha Wedekind stört sich daran, wie die | |
Zeitungen über den Fall berichtet haben. „Leider werden die da immer als | |
normale Menschen beschrieben.“ Was die denn sonst sein sollen? „Asoziale. | |
Komplett Asoziale. Keiner von denen hat gearbeitet.“ Er stützt die Hände in | |
die Hüften, schaut die schmale, stille Straße herab. Er sagt, dass sich das | |
Leben verändert hatte, seit die Reinkes hier lebten: Die Söhne sollen | |
herumgepöbelt und Jugendliche attackiert haben. Einmal hätten sie seinen | |
kleinen Bruder mit Schlagstöcken die Straße hochgejagt. Das Dorf war in | |
Angst, sagt er. „Jeder hier ist froh, dass die weg sind.“ | |
Helmut Reinke wurde fast zu Tode geprügelt. Die Täter fügten ihm einem | |
Schädeltrümmerbruch und Hirnblutungen zu. Sie wurden noch in derselben | |
Nacht festgenommen. Das Landgericht Göttingen hat sie im März wegen | |
schwerer Körperverletzung verurteilt, den älteren zu dreieinhalb, seinen | |
jüngeren Cousin zu drei Jahren Jahren Haft. Nur was genau in Seulingen | |
geschehen ist, konnte auch der Prozess nicht klären. | |
Der Konflikt zwischen den Nachbarn hatte sich über Monate hochgeschaukelt. | |
Die Cousins sollen damit aber gar nichts zu tun gehabt haben. Warum also | |
haben gerade sie dem Rentner den Schädel eingeschlagen? Die Kammer hat 23 | |
Zeugen befragt; die einen logen, andere behaupteten, sich an nichts zu | |
erinnern. „Einige wussten mit Sicherheit mehr, als sie gesagt haben, | |
insbesondere hinsichtlich des Motivs“, sagt ein Sprecher des Gerichts. | |
## Ist Ausländerfeindlichkeit ein Motiv? | |
Reinkes leben noch in der Region, aber in einem anderen Dorf. Die Mutter | |
kauert am Küchentisch, eine schmale Frau, 59 Jahre, mit knochigen Schultern | |
und Misstrauen in den Augen. Gegenüber lehnen ihr Sohn Carsten* und ihre | |
Tochter Melanie*. Zwei Kleinkinder krabbeln umher. Ein Chihuahua trappelt | |
über das rissige Laminat. Helmut Reinke ist nicht da, er musste ins | |
Krankenhaus, epileptische Anfälle. „Er kommt nicht zur Ruhe. Er fragt immer | |
noch: Warum haben die das gemacht?“, sagt seine Frau. „Da kann ich auf ihn | |
einreden. Ich sag: Wir müssen da beide drüber wegkommen.“ | |
Die Reinkes zogen 2011 nach Seulingen. Die Probleme fingen im Mai oder Juni | |
2013 an. Immer wieder sammelten sich nachts junge Männer vor ihrem Haus. | |
Sie warfen Steine gegen die Mauern und Böller. Die Familie erstattete | |
mehrfach Anzeige. Der Dorfpolizist reagierte darauf nicht. Seulingen hat | |
1.300 Einwohner, 300 sind im Schützenverein, der Polizist ist | |
Vorstandsvorsitzender. Gegen ihn läuft nun ein Disziplinarverfahren. | |
„Meiner Meinung nach war das ein ausländerfeindliches Dorf“, sagt Melanie | |
Reinke, deutet auf die kleinen Jungen. „Sie sehen ja, dass das keine reinen | |
Deutschen sind.“ Sie und ihre Schwester wurden fast zeitgleich schwanger, | |
sie von einem türkischen Montagearbeiter, die Schwester von einem Bulgaren. | |
Gleich danach, sagt sie, ging die Schikane los; die Männer, die bei Nacht | |
Steine warfen, hätten geschrien: „Ausländerschlampen“. | |
## Der behinderte Bruder | |
Es gehört zu den kuriosen Details dieses Falls, dass man zugleich in | |
Seulingen erzählt, Carsten Reinke sei ein Rechtsextremer. Er soll Zeit im | |
Gefängnis verbracht haben. Die Familie streitet das ab. Tatsachen und | |
Gerüchte lassen sich kaum noch trennen. Sicher ist, dass im Dorf viel | |
geredet wurde, über die Hunde der Familie, die Töchter mit ihren | |
„südländischen Freunden“ und die angeblich gewalttätigen Söhne, so schr… | |
nach der Tat eine Lokalzeitung. | |
Der Vater hatte damals einen Schäferhund, die Schwester hält eine Dogge. | |
Ein harmloses Tier, sagt Melanie Reinke, „die Kinder spielen damit Pony“. | |
Es kam aber noch etwas dazu: Ihr jüngerer Bruder hat eine leichte | |
Behinderung. Er tat niemandem etwas. Aber er stand oft an der Straße, | |
stundenlang, und sah den Leuten zu. Einmal tauchte er an der Grundschule | |
auf, da bekamen die Leute Angst um ihre Kinder. | |
Die meisten Vorwürfe gegen die Reinkes bleiben diffus. Nur ein Fall lässt | |
sich konkret fassen: Ende August 2013 gingen zwei, drei männliche | |
Mitglieder der Familie mit Teleskop-Schlagstöcken auf ein paar junge Männer | |
in der Nachbarschaft los. Die Familie gibt den Vorfall zu. So hätten sie | |
sich zu wehren versucht gegen diejenigen, die sie nachts ständig | |
drangsalierten. Mehr wollen sie nicht sagen. | |
## Pöbel versus feine Gesellschaft | |
So kam eine Kettenreaktion in Gang; Außenseiter wurden Eindringlinge wurden | |
Bedrohung. Niemand versuchte, den Konflikt zu lösen. Carsten Reinke sagt: | |
„Wir sind Einzelgänger, die nicht gern Kontakt zu anderen Leuten haben.“ | |
Als die Polizei in Seulingen eintrifft und Helmut Reinke schwer verletzt | |
vor seiner Tür liegt, stehen die Anwohner dabei und johlen. „Endlich macht | |
mal jemand was“, soll einer gesagt haben. So hat es eine Polizistin während | |
des Prozesses beschrieben. | |
Wie lässt sich eine solche Eskalation erklären? „Die feine Seulinger | |
Gesellschaft hat alles darangesetzt, den Pöbel aus dem Dorf zu treiben“, so | |
hat es Steffen Hörning, der Anwalt der Familie, in seinem Plädoyer | |
formuliert. Nun sitzt er in seinem Büro in Göttingen und ordnet seine | |
Gedanken; ihm hängt der Prozess noch nach. „Die Zeugen haben gnadenlos | |
gelogen. Die Kammer stieß auf eine Mauer des Schweigens.“ Für ihn liegen | |
die tieferen Ursachen in der sozialen Struktur Seulingens. Drei, vier | |
Unternehmerfamilien gäben den Ton an, die Täter stammten aus einer davon. | |
Ein erzkonservativer Ort, sagt der Jurist: „Da passten die Reinkes nicht | |
ins Bild.“ | |
Auch die Spurensuche in Seulingen liefert keine klareren Antworten. Die | |
Sonne senkt sich über die Giebeldächer; ein paar Nachbarn graben in den | |
Vorgärten. Zwei alte Frauen laufen über die Brücke im Ortskern. Die eine | |
schleppt Einkaufstüten, die andere stützt sich auf Nordic-Walking-Stöcke. | |
Fragt man nach Reinkes, winken sie ab: „Da spricht keiner mehr drüber.“ | |
Doch sie erinnern sich, dass die Zuzügler die Ruhe im Ort störten. „Man | |
hatte Angst, wenn die einem entgegenkamen mit ihren großen Hunden.“ Wovor | |
sich die Leute fürchteten? „Das wissen wir nicht genau“, sagt die eine, die | |
andere sagt, lauter: „Man fühlte sich eben bedroht.“ | |
## Vitales Vereinsleben | |
Wenige Meter weiter, gleich hinter der Kirche, steht das Bürgerhaus. | |
Glockenläuten dringt in das Büro des Bürgermeisters. Matthias Rink ist | |
CDU-Mitglied, ein höflicher, besonnener Mann. Auch er versteht nicht, was | |
im Spätsommer 2013 in seine Gemeinde gefahren ist; er wirkt fassungslos, | |
noch jetzt. „Das war etwas, was man so in Seulingen nicht kannte“, sagt er. | |
„Unser Dorf ist idyllisch, familiär und getragen von einem vitalen | |
Vereinsleben.“ Rink stochert nach Gründen: Da war der geistig | |
eingeschränkte Sohn, der die Leute mit seiner Art verunsicherte. Und da | |
waren der ältere Sohn und ein Schwager: „Die sind wohl sehr ruppig | |
aufgetreten – ich weiß es nur vom Hörensagen.“ | |
Kurz nach der Tat gab es hier im Bürgerhaus einen Informationsabend. Fast | |
200 Menschen waren gekommen. Als die Polizei mitteilte, dass Reinkes | |
Seulingen verlassen, applaudierte die Menge. „Ja“, sagt der Bürgermeister. | |
„Das war ein Stück weit peinlich.“ Ihm ist klar, dass sein Ort nicht gut | |
dasteht in dieser Geschichte. „Das war wohl Ausdruck der Erleichterung | |
darüber, dass der Konflikt jetzt vorbei ist.“ | |
Die Cousins haben vor Gericht gesagt, sie wollten die Familie nur | |
erschrecken. Sie zündeten die Böller und warfen sie gegen das Haus. Dann | |
seien die Hunde auf sie zugestürmt, Helmut Reinke habe versucht, dem | |
Jüngeren den Schläger zu entreißen. Es sei zu einem Gerangel gekommen, der | |
Ältere habe ihn aus Versehen am Kopf getroffen. Gegen das Urteil haben sie | |
Revision eingelegt. | |
## Wiederhergestellte Ordnung | |
Christa Reinke sagt, sie saß mit ihrem Mann vor dem Fernseher. Gegen halb | |
eins wurde sie von den Knallern aufgeschreckt. Sie ging nach draußen, er | |
folgte ihr dicht. Vor dem Haus standen die Cousins in der Dunkelheit. Der | |
Ältere habe ihrem Mann auf den Kopf gedroschen, sechs, acht Mal. Er habe | |
gebrüllt: „Verpisst euch aus Seulingen, ihr Schweine.“ Ihre Stimme bricht, | |
und ihr Gesicht wird hart. „Man will einen Strich drunter machen, man will | |
vergessen“, murmelt sie. | |
In Seulingen ist längst Ruhe eingekehrt. Das Böse ist aus dem Ort | |
verschwunden, die Ordnung wiederhergestellt. Und rund 60 Kilometer entfernt | |
sitzt eine magere Frau am Küchentisch und wird die Bilder in ihrem Kopf | |
nicht los, ihr Mann, der verletzt auf den Asphalt stürzt, und dahinter die | |
jubelnde Menge. | |
*Die Namen sind geändert | |
16 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Gabriela Keller | |
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