# taz.de -- Debatte Psychostress am Arbeitsplatz: Ackern auch mit Depression | |
> Gewerkschaften und Oppositionsparteien fordern Anti-Stress-Verordnungen. | |
> Doch die Präventionsschancen sind in unserer Gesellschaft sehr ungleich | |
> verteilt. | |
Bild: Vor der Klasse ist Präsenz angesagt: Rückzugsmöglichkeiten gibt es dor… | |
Die Deutsche Gesellschaft für Personalführung hat sich in einem Leitfaden | |
seelischer Krisen angenommen. Wie erkennt eine Führungskraft, dass ein | |
Mitarbeiter abdriftet? „Demonstrativer sozialer Rückzug“, „vorschnelles | |
verbales Angreifen von Kollegen“, „extreme Veränderungen im Kleidungsstil�… | |
sind neben schlechteren Leistungen und anderen Anzeichen Symptome, dass | |
jemand aus dem Arbeitsprozess herausrutschen könnte. | |
Die Sorge um teure Ausfälle von Beschäftigten wegen psychischer | |
Erkrankungen hat auch die Personalabteilungen erreicht. | |
Gewerkschaften und Oppositionsparteien nehmen sich gleichfalls des Themas | |
an und fordern Anti-Stress-Verordnungen für Betriebe. Kämen solche | |
Verordnungen, hätten Betriebsräte ein größeres Mitspracherecht bei | |
Arbeitsplatzgestaltung, Aufgabenmenge und Arbeitszeiten. Das wäre zu | |
begrüßen. | |
Denn es ist dringend nötig, sich über Prävention mehr Gedanken zu machen. | |
Psychisch Erkrankte fehlen dreimal so lange wie körperlich Malade, nämlich | |
im Schnitt 39 Tage. Und Frühverrentungen wegen Arbeitsunfähigkeit sind | |
teuer. Erwerbstätige möglichst in der Arbeitswelt zu halten, ist eine | |
gesellschaftliche Aufgabe geworden, die nichts mit Ausbeutung zu tun hat, | |
sondern mit Teilhabe. | |
## „Diagnosenverschiebung“ | |
Die steigende Zahl von Psychodiagnosen ist dabei nicht unbedingt ein | |
Beweis, dass die Belastungen im Job tatsächlich zugenommen haben. Die | |
Frühverrentungen aufgrund von Psychodiagnosen nehmen zwar zu, jene aufgrund | |
von körperlichen Diagnosen gehen jedoch zurück. | |
Psychiater sprechen daher von einer „Diagnosenverschiebung“ vom | |
Körperlichen ins Seelische. Das Leiden, das Nichtfunktionieren in der | |
Arbeitswelt wird heute eher etwa über die Diagnose einer Depression oder | |
Angsterkrankung abgebildet und weniger über den Befund von | |
Rückenbeschwerden oder Magengeschwüren. | |
Wir können aber vom jahrzehntelangen Umgang mit körperlichen Belastungen | |
und Beschwerden im Arbeitsschutz lernen, wenn es um die Bewältigung | |
seelischer Probleme geht. Bei den körperlichen Belastungen gibt es eine | |
Doppelstrategie: Einmal muss der Verschleiß verringert werden. Zum Zweiten | |
aber sollten die Beschäftigten eine Tätigkeit finden, die zur Belastbarkeit | |
passt. | |
Übertragen auf den seelischen Stress bedeutet dies: Überforderungen auf | |
manchen Arbeitsplätzen gilt es zu reduzieren – gleichzeitig aber müssen die | |
Jobs auch zu den persönlichen Dispositionen der Beschäftigten passen. Nicht | |
nur die Arbeitsplätze weisen psychische „Gefährdungen“ auf, auch die | |
Individuen selbst haben unterschiedliche Labilitäten. | |
## Kein Ausweichen möglich | |
Der Berliner Psychiater Michael Linden weist darauf hin, dass 14 Prozent | |
der Bevölkerung Angst davor haben, vor einer Gruppe zu sprechen. 13 Prozent | |
fürchten sich, einen vollen Raum zu betreten. 10 Prozent geraten unter | |
Stress, wenn sie mit Autoritäten reden müssen. | |
Diese Dispositionen können eine Rolle spielen, wenn in einem Job | |
Kundenpräsentationen nötig sind, der Arbeitsplatz in einem Großraumbüro | |
liegt und dann noch zu viel Druck durch schlechte Führung dazu kommt. | |
## Rückzug nicht immer möglich | |
Die Aufgabe besteht darin, sich trotz und mit den Labilitäten in der | |
Erwerbswelt zu halten. Im Lehrer-Job zum Beispiel kann man sich nicht mal | |
eben innerlich zurückziehen, wenn man vor einer Klasse steht. Es gibt | |
LehrerInnen, die keine Klassenfahrten mehr begleiten – und zwar nicht aus | |
Bequemlichkeit: Nicht selten haben die Pädagogen eine depressive Phase | |
hinter sich. LehrerInnen können ihre Belastungen ansonsten nur über eine | |
Verringerung der Stundenzahl vermindern. | |
Oft bezahlen die Fachkräfte ihre Stressentlastung selbst. Befragungen in | |
Pflegeheimen zeigen, dass die dort arbeitenden Frauen unter chronischem | |
seelischen Stress leiden, weil sich die Turbo-Abfertigung nicht mit ihrem | |
Menschenbild in Einklang bringen lässt. | |
Da der Krankenstand unter dem Pflegepersonal hoch ist, machen die | |
Arbeitgeber vielerorts nur noch 30-Stunden-Verträge mit entsprechend | |
geringerem Ausfallrisiko. Die Beschäftigten zahlen dafür mit niedrigerem | |
Monatslohn und später dann geringerer Rente. | |
## Besserung nur mit Betriebsrat | |
Gewerkschaften, SPD, Grüne und Linke wollen Anti-Stress-Verordnungen, die | |
vor allem präventiv wirken. Käme dies, hätten Betriebsräte mehr Mitsprache, | |
um Arbeitsplätze mit zu hoher Aufgabenmenge und anderen Überforderungen | |
gezielt anzuprangern und zu verbessern. Solche Verordnungen würde | |
allerdings vor allem in Firmen greifen, die ohnehin schon gut aufgestellt | |
sind und über starke Betriebsräte verfügen. | |
Die IG Metall verweist als „Best practice“-Beispiele für Stressprävention | |
etwa auf die Aufzugfirma Otis in Mannheim und den Sensorproduzenten Sick in | |
Waldkirch. | |
In diesen Betrieben wurde im Rahmen von stressreduzierenden Maßnahmen in | |
bestimmten Abteilungen das Personal aufgestockt. So was ist teuer. Die | |
Beschäftigten in unterfinanzierten Dienstleistungsbranchen können von solch | |
einer Entlastung nur träumen. | |
Fair verteilt sind die Präventionschancen also nicht. Fair ist auch nicht | |
der Ausschluss von Hunderttausenden, die nicht mehr mithalten können: | |
Sachbearbeiter in den Jobcentern berichten, dass sich unter der | |
Hartz-IV-Klientel immer mehr psychisch Labile befinden. | |
## Angepasste Beschäftigung | |
Eine neue Anti-Stress-Verordnung im Arbeitsschutzgesetz, die auch mehr | |
Gewicht auf die Wiedereingliederung von psychisch Labilen legt, ist zu | |
begrüßen. Die Jobcenter müssten zudem mehr Beschäftigungsmaßnahmen für | |
seelisch Erkrankte anbieten. | |
Und nicht zuletzt müssen die Löhne in superstressigen | |
Dienstleistungsbranchen wie der Pflege steigen, damit eine | |
Arbeitszeitreduzierung möglich ist. | |
Man weiß heute ziemlich viel über seelische Überlastungen. Ob man dieses | |
Wissen anwendet, um Leute in Beschäftigung zu halten, oder ob man die | |
Probleme über individuelle Krankengeschichten entsorgt, ist eine politische | |
Frage. Das Leid kommt jedenfalls nicht von der Arbeit, wenn der Job passt. | |
4 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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