# taz.de -- Leidgeprüfter Nordkaukasus: Spielball der Mächtigen | |
> Unter Stalin wurden die Tschetschenen zwangsumgesiedelt, nach dem Zerfall | |
> der Sowjetunion waren sie vielerorts nicht mehr willkommen. | |
Bild: Unsichere Region: Ausgebranntes Polizeiauto in Dagestan. | |
MOSKAU taz | Der tschetschenische Republikchef Ramsan Kadyrow sieht es | |
nicht gern, wenn seine Heimat mit Terror in Verbindung gebracht wird: Jeder | |
Versuch, die Attentäter von Boston mit Tschetschenien in Verbindung zu | |
bringen, sei vergebens, sagte er am Freitag. | |
Die Verdächtigen seien in den USA aufgewachsen und hätten dort ihre Werte | |
erhalten. Ähnlich argumentierten auch russische Politiker und wiesen jede | |
moralische Verantwortung für die Taten weit von sich. | |
Tatsächlich ist noch vieles unklar: Besaßen die Brüder bei Geburt die | |
russische, die türkische oder die kirgisische Staatsbürgerschaft? Diese | |
Frage verweist zugleich auf die Geschichte des leidgeprüften Nordkaukasus, | |
der sich seit mehr als 150 Jahren nur widerwillig der russischen Oberhoheit | |
unterstellt. | |
Der ältere Bruder, Tamerlan Zarnajew, soll in Tokmok in der | |
zentralasiatischen Republik Kirgistan an der Grenze zu Kasachstan geboren, | |
der jüngere, Dschochar, der Kaukasusrepublik Dagestan zur Welt gekommen | |
sein, einem Schmelztiegel von mehr als 70 verschiedenen Völkern. | |
In Kirgistan lebt bis heute noch eine Diaspora von 20.000 Tschetschenen – | |
eine Folge der Politik Stalins: Der hatte die Tschetschenen 1944 nach | |
Kirgistan, Kasachstan und Sibirien deportiert, um sie daran zu hindern, mit | |
den deutschen Besatzern zu kollaborieren. 1957 durften sie zurückkehren. | |
Viele blieben jedoch vor Ort – weil sie kein Geld hatten oder weil in der | |
alten Heimat keine Verwandten mehr lebten. | |
Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 waren die Kaukasier in Kirgistan und | |
anderen Nachfolgestaaten nicht mehr gern gesehen. Als ehemalige | |
Sowjetbürger hatten sie Anspruch auf die russische Staatsbürgerschaft, | |
nicht jedoch auf die der neuen Staaten. | |
## Dagestan – zwischen Mafia und und religiösem Eifer | |
Das mag ein Grund gewesen sein, warum die Familie Zarnajew in der ersten | |
Hälfte der neunziger Jahre in die Russische Föderation auswanderte. | |
Unklarheit herrscht noch, ob sie sich gleich in Dagestan, der größten | |
Republik im Nordkaukasus, niederließ. Angeblich gibt es auch Hinweise, dass | |
die Zarnajews während der beiden Tschetschenienkriege 1994 und 1999 | |
vorübergehend wieder nach Zentralasien zurückkehrten, wie dies viele | |
Emigranten taten. | |
Dagestan hat sich seit den neunziger Jahren sehr verändert. Die beiden | |
Tschetschenienkriege verwandelten die Region in das Epizentrum des | |
islamistischen Terrorismus im Nordkaukasus. Kaum ein Tag vergeht ohne | |
Attentat. Die Anhänger des radikalen wahhabitischen Islam aus Saudi-Arabien | |
sind auf dem Vormarsch. | |
Moskau hat Dagestan längst inoffiziell als unregierbar aufgegeben. Die | |
Republik wird zwischen einer korrupten politischen Kaste in der Hauptstadt | |
Machatschkala und immer mehr religiösen Eiferern aus ärmlichen | |
Verhältnissen aufgerieben. | |
## Auf der Flucht nach Spanien gefasst | |
Bislang wütete der islamische Terrorismus aus dem Nordkaukasus fast | |
ausschließlich auf dem Gebiet der Russischen Föderation. Einzelne | |
Nordkaukasier, darunter auch Tschetschenen, tauchten in Pakistan und | |
Afghanistan in Gruppen auf, die al-Qaida unterstehen sollen. Beispiel: Ein | |
2012 wurden die Tschetschenen Muhammed Adamow und Eldar Magomedow auf der | |
Flucht von Spanien nach Frankreich gefasst. | |
Sie wurden verdächtigt, in Gibraltar zusammen mit einem Türken einen | |
Anschlag auf ein Einkaufszentrum geplant zu haben. Beide hatten | |
islamistische Ausbildungslager in Pakistan und Afghanistan durchlaufen und | |
sollen an Attentaten in Russland beteiligt gewesen sein. | |
Von einem eigenständigen Zweig für internationalen Terrorismus des | |
„kaukasischen Emirats“ ist jedoch nichts bekannt. Dessen Emir, Doku Umarow, | |
hatte Anfang 2012 auch für Russland ein Terrormoratorium verhängt, um die | |
Proteste gegen das Regime Putin und den politischen Aufbruch der russischen | |
Zivilgesellschaft nicht zu schwächen. | |
22 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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