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# taz.de -- Ziviler Ungehorsam: Mieter sitzen die Krise aus
> Der Protest gegen steigende Mieten nimmt Fahrt auf: Eine Initiative
> kündigt an, Zwangsräumungen mit Blockaden zu verhindern.
Bild: Hier war es noch friedlich: Demonstration am Kottbusser Tor
Der Widerstand gegen die Räumung von Mietern aus ihren Wohnungen wächst. In
Kreuzberg bereitet sich die Initiative „[1][Zwangsräumung verhindern]“ auf
die nächste Blockade vor: AktivistInnen und Anwohner wollen verhindern,
dass die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM) ein
Ehepaar zwingt, aus seiner Wohnung auszuziehen. „Immer mehr Menschen in
Berlin merken, dass sie jetzt konkret etwas gegen steigende Mieten und
Verdrängung tun können“, sagte David Schuster von der Initiative am
Mittwoch.
Bereits Ende Oktober hatten rund 100 Menschen die Räumung einer Familie in
der Lausitzer Straße in Kreuzberg verhindert, indem sie sich vor die
Haustür setzten und der Gerichtsvollzieherin den Zutritt verwehrten.
Zahlreiche Menschen haben inzwischen in einer Erklärung ihre Solidarität
mit den Betroffenen erklärt. Unter ihnen sind der Vorsitzende und die
Mädchenabteilung des Fußballvereins Türkiyemspor, Künstler,
Landespolitiker, Wissenschaftler und Geschäftsinhaber aus der
Nachbarschaft. „Seit dieser Fall öffentlich wurde, melden sich immer mehr
Familien, die von Räumungen bedroht sind“, so Schuster.
So auch eine 70-jährige Frau und ihr 80 Jahre alter Mann, die 1969 aus der
Türkei kamen und seit über 20 Jahren in der Lübbener Straße im Wrangelkiez
wohnen. Bis Ende November sollen sie ihre Wohnungsschlüssel abgeben, da sie
vor dem Landgericht einem Vergleich mit der WBM zugestimmt hatten, der
ihren Auszug vorsieht. Dies hätten die Eheleute aber nicht verstanden,
erklärte eine Freundin des Paars am Mittwoch vor Journalisten. Das Paar
fühle sich von der Dolmetscherin getäuscht. Die Eheleute selbst treten
wegen körperlicher und psychischer Erkrankungen nicht öffentlich auf.
Eine WBM-Sprecherin widerspricht. Dem Vergleich seien jahrelange
Auseinandersetzungen um einen Ungezieferbefall der Wohnung vorausgegangen.
Die Familie hatte die Miete gemindert, die WBM fordert einen Teil dieser
Minderung zurück, insgesamt 4.000 Euro. Grund für die Räumungsaufforderung
sei aber, dass die Streitereien die Fortführung des Mietverhältnisses
„unzumutbar“ machten, so die Sprecherin. „Wir sind der Familie oft
entgegengekommen und fühlen uns inzwischen regelrecht vorgeführt.“ Mit
Verdrängung habe das nichts zu tun.
Das sehen die Aktivisten anders. 300 Menschen hätten sich bisher für eine
Telefonkette gemeldet. Sie seien bereit, im Fall der Räumung spontan zu
blockieren, so Initiativen-Sprecherin Sara Walther. Zu einem
Nachbarschaftstreffen seien 50 Leute gekommen. „Wir gehen davon aus, auch
diese Räumung verhindern zu können.“
Die Offensive zeigt Wirkung: Den Räumungstermin für die Lausitzer Straße
nennen die Gerichte nun nicht mehr. Andernfalls, so ein Sprecher, könne das
Verfahren „vereitelt oder erschwert“ werden. Die Mieter-Initiative spricht
dagegen vom 12. Dezember als neues Räumungsdatum. "Haltet euch den Termin
frei", heißt es in einem Aufruf. "Wir blockieren und verhindern."
Für Reiner Wild vom Berliner Mieterverein ist die „deutliche Zuspitzung der
Wohnungsfrage“ Ursache für den radikaleren Widerstand. „Die inzwischen
nahezu aussichtslose Wohnraumsuche führt zu Verzweiflung.“ Gerade in
Kreuzberg existiere ein Netzwerk, das diese Probleme aufgreife und in
Protest umwandle, so Wild. „Ich gehe davon aus, dass das noch zunimmt.“
Tatsächlich hat sich im hiesigen Mietenprotest eine Dynamik in Gang
gesetzt. Durchbruch war ein Protestcamp, das Anwohner im Mai am Kottbusser
Tor errichten – und bis heute halten. Hier forderte nicht mehr nur die
linke Szene niedrigere Mieten, sondern auch bisher politisch nicht aktive
Anwohner, darunter viele Migranten. Sie setzten erst kürzlich eine
Mietenkonferenz im Abgeordnetenhaus durch.
Auf ihre Forderungen – Mietenkappung, Räumungsmoratorium – sind Politik und
Vermieter bisher nicht eingegangen. Auch deshalb bleibt es nicht mehr nur
bei symbolischem Protest. Im Juni blockierten Mietaktivisten einen Bus von
Immobilienmaklern. In Pankow besetzten Senioren ihren Freizeittreff. Für
Wild ein Ausdruck, dass das Mietenproblem „die Mitte der Gesellschaft
ergreift“.
Dennoch, betont der Mieterverein, verliefen die allermeisten Räumungen ohne
Protest. Genaue Zahlen dafür gibt es nicht. Aktivisten haben für einzelne
Bezirke recherchiert und hochgerechnet: Sie schätzen, dass es 3.000
Zwangsräumungen pro Jahr gibt. Der Senat nennt für die erste Hälfte dieses
Jahres eine Zahl von 522 Haushalten, die nach Aufforderungen zu
Kostensenkungen einen Umzug antraten. Dazu kämen aber noch Umzüge nach
Kündigungen oder Mieterhöhungen, betont Reiner Wild. Und wegen der
„drastisch steigenden Mieten“ rechnet er künftig noch mit einer Zunahme der
Auszüge.
28 Nov 2012
## LINKS
[1] http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de/
## AUTOREN
K. Litschko
S. Puschner
## TAGS
Banken
Ziviler Ungehorsam
Gentrifizierung
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