# taz.de -- Tunesischer Exil-Oppositioneller Marzouki: "Schlimmer kann es gar n… | |
> Aus Angst vor dem Islamismus hat Europa arabische Diktatoren wie Ben Ali | |
> viel zu lange gestützt. Deren Tage sind gezählt, meint der tunesische | |
> Exil-Oppositionelle Moncef Marzouki. | |
Bild: "Ben Ali – Hau ab!" steht auf diesem Schild, das Demonstranten in Tunis… | |
taz: Herr Marzouki, als Reaktion auf die Proteste in seinem Land hat | |
Tunesiens Präsident Ben Ali am Donnerstag in einer Fernsehansprache | |
versprochen, zum Ende seiner aktuellen Amtszeit im Jahr 2014 | |
zurückzutreten. Er versprach außerdem Arbeitsplätze, einen | |
Korruptions-Auschuss und grundlegende Reformen. Was halten Sie davon? | |
Moncef Marzouki: Die Regierung Ben Alis steht vor dem Totalbankrott. Das | |
Volk glaubt diesem mafiösen Diktator nichts mehr. Jetzt, in diesem Moment, | |
zerstören die Leute überall im Land sein Porträt: und alle wollen die | |
Absetzung von Ben Ali. Nun verspricht er 300.000 Arbeitsplätze. Aber die | |
Tunesier haben genug von solchen Versprechungen. Sie haben genug von diesem | |
Regime, von diesem Mann. Das ist eine politische und soziale Revolution, in | |
den Städten und auf dem Land. Das Land ist längst reif dafür. | |
Ben Ali wurde im Ausland bisher zwar als Diktator, aber auch als | |
Modernisierer gesehen. Stimmt das? | |
Das ist absolut falsch. Sein Vorgänger Habib Bourguiba war der | |
Modernisierer: Auch er war ein Autokrat, aber er hat die Republik und die | |
säkulare Verfassung, also die Trennung von Staat und Religion, die | |
Schulpflicht und die Gleichstellung der Frau eingeführt. Ben Ali hat einige | |
dieser Reformen wieder zurückgedreht. Als Ben Ali 1987 die Macht übernahm, | |
sagte er, Tunesien sei reif für die Demokratie, und er versprach | |
demokratische Entwicklung. Stattdessen hat er die Präsidentschaft auf | |
Lebenszeit eingeführt, die Menschenrechte mit Füßen getreten, die | |
Parteienvielfalt unterbunden, die Presse zensiert. Das Land wird ausgesaugt | |
- von ihm, seiner Frau und den Brüdern seiner Frau. Er kauft sich zum | |
eigenen Vergnügen einen Airbus für 400 Millionen - und nach Sidi Bouzid, wo | |
die Revolte ihren Anfang nahm, sollen jetzt 15 Millionen fließen? Das ist | |
doch lächerlich! | |
Bis jetzt konnte Ben Ali auf ein viel gelobtes Wirtschaftswunder verweisen. | |
Was ist damit? | |
Das sehen Sie doch: Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und eine Clique, | |
die sich selbst bereichert. Eine totale ökonomische Liberalisierung mit | |
einem Wirtschaftswunder gleichzusetzen ist blanker Hohn. Es gab nie zuvor | |
so viel Korruption in diesem Land. | |
In Deutschland schreibt die tunesische Botschafterin in einem Rundbrief, | |
die Krise sei ausschließlich wirtschaftlicher Natur, und warnt vor | |
"Desinformationskampagnen der Medien", die nur den Extremisten dienten. Was | |
ist davon zu halten? | |
Wir haben es hier mit einer Revolution zu tun, gegen die unerträgliche | |
Korruption und den Polizeistaat. Das ist ein Aufstand des ganzen Volkes: | |
Intellektuelle und Arbeiter, Männer und Frauen. | |
Welche Rolle spielt die EU dabei? | |
Die Europäische Union wünscht sich Stabilität, Prosperität und Demokratie | |
in ihrer Nachbarschaft. Aber sie unterstützt nicht die arabischen Völker, | |
sondern Diktatur, Armut, Extremismus und soziales Chaos. In Tunesien hat | |
sie eine korrupte und mafiöse Diktatur gestützt. Das ist gegen ihre | |
Prinzipien, aber vor allem verrät sie damit auf lange Sicht ihre | |
ureigensten Interessen. Sie glaubt, mit einem Polizeistaat wie dem von Ben | |
Ali würde sie den Islamismus bekämpfen. Aber der Islamismus in seinen | |
Wurzeln lässt sich garantiert nicht durch einen Polizeistaat bekämpfen. | |
Manche fürchten auch jetzt, die Islamisten könnten Auftrieb erhalten. | |
Während der seit nunmehr vier Wochen anhaltenden Auseinandersetzungen waren | |
die Islamisten nicht präsent. Was wir jetzt haben, ist eine laizistische, | |
politische Bewegung gegen Ausbeutung und Diktatur. Man sollte endlich damit | |
aufhören, Ben Ali das Islamisten-Alibi abzunehmen. Es gibt keine | |
Islamisten, die die Menge manipulieren. | |
Was erwarten Sie jetzt von der EU? | |
Ich erwarte mir etwas von der europäischen Zivilgesellschaft - dass sie | |
versteht, dass ihre politischen Vertreter mit der Unterstützung dieses | |
diktatorischen Regimes auf lange Sicht die Interessen Europas verraten. Ich | |
hoffe, dass in Europa der Druck gegen die Zusammenarbeit mit diesem | |
repressiven System wächst. Und man sollte aufhören zu glauben, dass die | |
Islamisten das Land übernehmen werden, wenn Ben Ali verschwindet. | |
Wer könnte sonst an seine Stelle treten, wenn Ben Ali abtritt? | |
Es gibt in Tunesien genug Demokraten, verantwortliche Männer und Frauen, | |
die sich demokratischen Prinzipien verpflichtet fühlen und gute Beziehungen | |
zu Europa pflegen werden. Europa kann von einem politischen Wechsel im | |
südlichen Mittelmeer nur profitieren. | |
Bisher scheint die Gewerkschaft UGTT die einzige politische Gegenkraft zu | |
sein: Sie hat sich hinter die Demonstrationen gestellt, den Generalstreik | |
organisiert und den Abzug von Polizei und Armee verlangt. Gibt es noch | |
andere Alternativen? | |
Die Parteien sind zerschlagen, die Opposition ist im Gefängnis oder im | |
Exil. In einer Diktatur wird eben keine politische Opposition geduldet. | |
Aber es gibt einen zivilgesellschaftlichen Widerstand und eine starke | |
politische Strömung, die drei Dinge fordert: erstens den Rücktritt von Ben | |
Ali. Zweitens eine Interimsregierung, die, drittens, in einigen Monaten | |
freie und faire Wahlen organisieren soll. | |
Das klingt noch sehr vage. Haben Sie keine Angst vor einem langfristigen | |
politischem Chaos? | |
Kann es instabiler und chaotischer sein als jetzt? | |
Auch in Algerien gab es Proteste. Könnte es, nach dem Schneeballprinzip, zu | |
weiteren Erhebungen im Maghreb oder in anderen arabischen Ländern wie | |
Ägypten kommen? | |
Der Schneeball ist längst ins Rollen gekommen. Zuerst waren es die Ägypter, | |
die gegen die Diktatur aufstanden, dann die Tunesier und Algerier. Nicht | |
ausgeschlossen, dass sich morgen die Jordanier oder Syrer erheben. Es sind | |
die gleichen Diktaturen, die gleichen Regimes. Und die arabischen Völker | |
haben genug davon. In all diesen Ländern ist etwas im Gange. Wenn Europa | |
das nicht versteht, dann versteht es nichts von der arabischen Welt. | |
14 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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