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# taz.de -- Regierungskrise in Tunesien: "Der Präsident muss weg"
> Der ursprünglich auf zwei Stunden begrenzte Generalstreik wird zu einer
> Großkundgebung. Forderungen: Demokratie und freie Wahlen. Präsident hat
> Land verlassen.
Bild: Ein Feuer brennt in Tunis, auf dem Bild ist auch ein Plakat des tunesisch…
TUNIS taz/dapd/afp | Immer wieder singen die Demonstranten vor dem
Innenministerium auf der Avenue Habib Bourguiba die tunesische
Nationalhymne und rufen: "Freiheit für Tunesien. Ben Ali raus!" Der für
Freitagvormittag angekündigte Generalstreik hat sich in eine Großkundgebung
versammelt. Ohne Rücktritt des Staatschefs, der seit 23 Jahren mit eiserner
Hand regiert, wollen die Demonstranten nicht weichen. "Wir vergessen unsere
Märtyrer nicht" steht auf Transparenten, mit denen sie der über 100 Toten
der letzten Woche gedenken.
Zu Beginn der Streikversammlung herrschte eine gelöste, fast schon
fröhliche Stimmung. Immer wieder stoßen Gruppen neuer Demonstranten dazu,
darunter ganze Familien. Alle verewigen sie mit ihren Handys den Moment
"der zweiten Unabhängigkeit", wie sie es nennen. Auf den Dächern der
umliegenden Wohnblocks schwenken Jugendliche die rote tunesische Fahne mit
Halbmond.
Wo ein ausländischer Journalist auftaucht, versammeln sich spontan Dutzende
Menschen. "Danke, dass ihr uns nicht alleine gelassen habt" lautet einer
der häufigsten Sätze. "Schreiben Sie, wir Tunesier werden nie wieder
gebückt gehen", sagt ein anderer.
Noch am Donnerstagabend hatte Präsident Zine El Abidine Ben Ali mit einer
Fernsehansprache versucht, das Ruder herumzureißen. Nach einem Tag, an dem
rund um und in der Hauptstadt mindestens fünf Tote durch Polizeieinsätze zu
beklagen waren, trat er kurz vor Beginn der Ausgangsperre vor die
Fernsehkameras. "Ich habe euch verstanden", sagte der Staatschef und
versprach Presse- und Versammlungsfreiheit sowie eine unabhängige
Kommission, die das Land zur Demokratie führen soll. Die Preise der
Grundnahrungsmittel würden gesenkt, verkündete er, außerdem habe er der
Polizei befohlen, nicht mehr zu schießen. Kaum war die Rede vorbei,
mobilisierte das Regime mehrere hundert Anhänger. Laut hupend feierten sie
trotz Ausgangsperre mit einem Corso meist teurer Geländewagen den
Staatschef auf der Avenue Habib Bouguiba, an der die Hotels liegen, wo die
internationale Presse abgestiegen ist. Fußvolk wurde mit Bussen aus
verschiedenen Stadtteilen unter Polizeieskorte herbeigekarrt.
Kurz vor Mitternacht funktionierten dann plötzlich die gesperrten Websites
der Opposition wieder. Die Videos auf Youtube über die Unruhen waren
plötzlich wieder zugänglich, und der Anfang Januar verhaftete Blogger Slim
Amamou meldete bei Twitter kurz: "Ich bin frei".
"Ben Ali hat seine letzte Patrone verschossen", analysierte der
französische Nachrichtensender France24 noch in der Nacht. Wirkungslos, wie
sich wenige Stunden später zeigte. Tausende Menschen versammeln sich vor
dem Gewerkschaftshaus in Tunis. Die Polizei versucht sich den Demonstranten
in den Weg zu stellen, die es jedoch schaffen, auf die große Avenue
durchzubrechen und zum Innenministerium zu ziehen. Den ganzen Tag über
wächst die Menge an.
Der Aufmarsch ist die Gelegenheit, endlich das zu tun, was so viele Jahre
nicht möglich war. Studenten, Arbeitslose, Arbeiter, Büroangestellte,
Hausfrauen, Ärzte, Lehrer stehen zusammen und debattieren. Alle schildern
frei ihre Vision vom Geschehen. "Glauben Sie wirklich, dass wir uns mit ein
paar Centimes weniger für Brot und Eier zufriedengeben?", bricht es aus
Hedi heraus, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen will. "Wir wollen
alles zurück, was uns geklaut wurde", sagt der 52-Jährige. Die Umstehenden
geben ihm Recht. Alle reden von der Korruption, vom Clan Ben Ali und "den
Trabelsis", der Familie der Präsidentengattin Leila Ben Ali.
Der Ben-Ali- und der Trabelsi-Clan haben bei der Privatisierung der
einstigen Staatswirtschaft an sich gerissen, was nur irgendwie lukrativ
erschien: Banken, Handelsketten, der Import aller großen europäischen und
asiatischen Kfz-Marken von Volkswagen über Peugeot bis hin zu Jaguar und
MAN. Selbst die Fluggesellschaft Tunis Air und einige Charterkompanien
befinden sich in Familienbesitz.
"Nur mit einer erneuten Verstaatlichung können wir diesen Reichtum dem Volk
zurückgeben", schlägt Hedi eine Lösung vor. Bevor er weiterzieht, berichtet
er noch, warum dies für ihn ein ganz besonderer Tag ist. "Dort drüben saß
ich von 1992 bis 1994 ohne Gerichtsurteil ein", sagt er und deutet auf das
belagerte Innenministerium. Das Vergehen des ehemaligen Journalisten war
"ein leicht kritischer Meinungsartikel". Seither bekommt Hedi keine Arbeit
mehr.
"Wir wollen keine Scheinkommission, wir wollen Demokratie und freie Wahlen,
und das ohne Ben Ali", erklärt ein Student. Auf die Frage, wer denn das
Land in die neue Zeit führen solle, meint er nur: "Wir haben genügend gut
gebildete Leute, die sich in einem politischen Prozess profilieren können."
Zurzeit gibt in Tunesien keine herausragenden Oppositionsführer. Ben Ali
hat mit seiner Repression in den vergangenen 23 Jahren ganze Arbeit
geleistet. Einer der wenigen, der eine gewisse Beliebtheit genießt, ist
Nejib Chebbi, der Vorsitzende der verbotenen Fortschrittlich-Demokratischen
Partei. Er könne sich vorstellen an einer Übergangsregierung der nationalen
Einheit teilzunehmen, erklärte er kurz nach Ende der Präsidentenansprache
gegenüber dem Nachrichtensender France24. "Die Rede ist politisch wichtig
und kommt den Erwartungen der Bevölkerung und der Opposition entgegen",
fügt er hinzu. Als Beispiel für eine langsamen Übergang zu einem echten
Mehrparteiensystem nennt Chebbi Marokko, wo die Monarchie Ende der 90er
einen Demokratisierungsprozess eingeleitet hatte.
Bei den Protestierenden vor dem Innenministerium will davon allerdings
keiner etwas hören. "Die Revolution geht weiter. Der Präsident muss weg.
Ben Ali raus!", skandieren die Demonstranten. Am Nachmittag gibt der
Präsident Neuwahlen bekannt. Laut einem Bericht der amtlichen
Nachrichtenagentur TAP verhängte der Präsident den Ausnahmezustand.
Der Reiseveranstalter Thomas Cook will einen großen Teil seiner 2000
Urlauber aus Tunesien mit sechs Flugzeugen nach Deutschland und Österreich
zurückbringen. Auf deutschem Boden sollte die erste Maschine am Freitag um
22.30 Uhr am Düsseldorfer Flughafen landen. Wie das Unternehmen in
Oberursel bei Frankfurt mitteilte, würden die Gäste dann mit Bus oder Bahn
zu den gebuchten Ursprungsflughäfen gebracht. Betroffen sind Gäste der
Thomas-Cook-Marken Neckermann Reisen, Thomas Cook, Bucher Last Minute und
Air Marin.
Nach Angaben aus Flughafenkreisen hat die Armee am späten Nachmittag die
Kontrolle über den Flughafen der Hauptstadt Tunis, Tunis Carthage
übernommen. Der Luftraum sei gesperrt worden. Der französische TV-Sender
BFM berichtete am Freitagabend, eine Maschine der Fluggesellschaft Air
France sei zur Umkehr nach Frankreich gezwungen worden. Am Flughafengelände
seien Panzer aufgefahren, berichteten übereinstimmend mehrere Augenzeugen.
14 Jan 2011
## AUTOREN
Reiner Wandler
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