| # taz.de -- Trauer um Sternenkinder: Ins Leben zurückfinden | |
| > Frauen, die bei der Geburt ihr Kind verlieren, fehlt oft der Raum, ihren | |
| > Verlust zu verarbeiten. Hebamme Janette Harazin bietet spezielle Kurse | |
| > an. | |
| Bild: Das Thema Totgeburt ist oft noch ein Tabu – viele Betroffene leiden all… | |
| Janette Harazin hat sich nicht verzählt: Sie hat drei Kinder. Dennoch war | |
| sie viermal schwanger und hat vier Kinder entbunden. Benjamin ist Harazins | |
| dritter Sohn. Er hat sich niemals mit seinen Geschwistern um ein Spielzeug | |
| gestritten und hat keinen Geburtstag gefeiert. Er ist eine Leerstelle in | |
| der fünfköpfigen Familie und auch nach zehn Jahren ist seine Abwesenheit | |
| präsent. | |
| [1][Die Zahl der Totgeburten] ist in Deutschland vergleichsweise gering, | |
| sie liegt bei 0,24 Prozent, Aber das bedeutet: Wenn im Jahr 2017 etwa | |
| 785.000 Babys lebend zur Welt kamen, wie das Statistische Bundesamt sagt, | |
| dann wurden etwas mehr als 1.800 Babys tot geboren. Sternenkinder heißen | |
| sie, und ihre Mütter werden verwaiste Mütter genannt. Das Thema Totgeburt | |
| ist dennoch ein Tabu – viele Betroffene leiden allein. | |
| Janette Harazin erinnert sich an den Tag ihrer Entbindung: Der Kreißsaal | |
| der Asklepios Klinik in Hamburg-Barmbek bemüht sich um heimelige | |
| Atmosphäre. Aber mit Linoleumboden, Schläuchen, Nadeln und den blinkenden | |
| Lichtern der Geräte entsteht am Ende eben doch ein steriles Klinikbild – | |
| wie es das in Deutschland unzählige Male gibt. | |
| Harazin erinnert sich an den Moment, als sie weiß, dass etwas nicht richtig | |
| läuft. Vielleicht aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung als Hebamme, | |
| vielleicht aber auch, weil die damals Zweiunddreißigjährige bereits zwei | |
| Kinder entbunden hatte – beide Male dauerten die Geburten nur wenige | |
| Stunden. Vielleicht ist es aber auch eine subjektive Gewissheit – ob nun | |
| nachträglich eingeschlichen oder schon während der Geburt. | |
| ## Angst im Kreißsaal | |
| Harazins dritter Sohn wollte in [2][Beckenendlage auf die Welt kommen], | |
| eine schwierige Position, aber nicht unüblich. Dennoch ging die Geburt | |
| nicht voran – kein gutes Zeichen. Harazin bekam Angst, erzählt sie heute, | |
| sodass sie sich innerlich am CTG festhielt: Sie sah den Herzschlag ihres | |
| Ungeborenen, die Nadel des Geräts schlug regelmäßig aus. Sie erinnert sich, | |
| dass es plötzlich hektischer wurde: Weiße Kittel und geschäftige Hände | |
| bewegten sich um sie herum, sie blickte in das blasse Gesicht ihres Mannes. | |
| Harazin erzählt, wie sie genau spürte, dass ihre Kraft nachließ, dass die | |
| Schmerzen und die Unsicherheit sie fest im Griff hatten. Letztendlich | |
| meisterte sie die letzte Wehe. Die Hebamme konnte allerdings nur noch den | |
| Tod des Neugeborenen feststellen. Ihr lebloses Baby wurde ihr vorsichtig | |
| auf den Bauch gelegt. Harazin erinnert sich, wie das kleine Wesen ganz | |
| friedlich auf ihrer Brust lag. | |
| Von einer Totgeburt spricht man in Deutschland dann, wenn das Neugeborene | |
| über 500 Gramm wiegt und nach der Geburt kein Lebenszeichen zu vernehmen | |
| ist. Die Eltern müssen den Tod melden, bekommen eine Geburtsurkunde mit | |
| Sterbevermerk und dürfen ihrem Kind einen Namen geben. Es besteht | |
| Bestattungspflicht. | |
| ## Jeder geht anders mit Kummer um | |
| Janette Harazin brauchte die Beerdigung, um Abschied zu nehmen. Sie und ihr | |
| Mann haben ihr drittes Kind Benjamin genannt. Harazins Jüngster weint | |
| bitterlich, er hatte sich darauf gefreut, großer Bruder zu werden. Der | |
| Älteste hingegen steht teilnahmslos neben seinen Eltern. „Er meinte damals, | |
| dass er Benjamin ja niemals kennengelernt habe. Ich solle ihm nicht böse | |
| sein“, sagt Harazin. Sie weiß, dass [3][jeder mit seinem Kummer anders | |
| umgeht], und lässt ihren Sohn in Ruhe. | |
| Sie versucht, in ihr Leben zurückzufinden, und geht gleich wieder arbeiten, | |
| macht Schichtdienst in einer Klinik und leitet nebenbei eine Praxis. Sie | |
| arbeitet zu viel und bricht nach einem halben Jahr zusammen. Heute wirkt | |
| Janette Harazin entspannt. Sie sieht jünger aus als zweiundvierzig, hat | |
| ihre glatten Haare zu einem Zopf gebunden und ist ungeschminkt. Sie hat | |
| eine mädchenhafte Stimme und lacht viel. Nur als sie von der Phase nach dem | |
| Tod ihres dritten Sohnes erzählt, wird sie ruhiger. | |
| „Ich habe wirklich schlimme Dinge in dieser Zeit getan“, flüstert sie. | |
| Einmal habe sie einer befreundeten Schwangeren die Bilder von ihrem toten | |
| Sohn gezeigt und ausschweifend von der Beerdigung berichtet. Die Schwangere | |
| habe sich abgewandt und später beklagt, dass sie diese Bilder nie wieder | |
| aus ihrem Kopf bekommen habe. Harazin sagt über sich selbst, sie sei damals | |
| eine sehr kühle Hebamme gewesen und sei kaum auf die Paare im Kreißsaal | |
| eingegangen. Ärzte werfen ihr Nachlässigkeit vor, Kolleginnen versuchen ihr | |
| zuzureden, sie solle sich eine Pause gönnen. Ohne Erfolg. | |
| ## Kurse für verwaiste Mütter | |
| Die Totgeburt von Benjamin nagt an ihr, sie hört auf zu essen, betreibt | |
| exzessiv Sport. An manchen Tagen schafft sie es morgens nicht aus dem Bett, | |
| fühlt sich überfordert. Das junge Leben, das sie täglich auf die Welt | |
| bringt, die glücklichen Schwangeren, die hoffnungsvollen Paare – all das, | |
| was sie an ihrem Job als Hebamme immer geliebt hat, erinnert sie an ihr | |
| totes Kind. Harazin geht es immer schlechter, die Familie leidet ebenfalls | |
| unter dieser Situation. Sie ertappt sich dabei, anderen Müttern ihre Kinder | |
| nicht zu gönnen, und maßregelt sich für diese Gedanken. Sie weiß keinen | |
| Ausweg und begibt sich endlich in eine Therapie. | |
| „So richtig gut wurde es aber erst, als ich wieder schwanger wurde. Ich | |
| habe meinen Mann regelrecht dazu gedrängt, dass wir es noch mal versuchen.“ | |
| Während der vierten Schwangerschaft findet Harazin langsam wieder zu sich. | |
| Sie arbeitet nicht mehr als Beleghebamme und konzentriert sich auf ihre | |
| Praxis. Dort gibt sie nun Kurse für „verwaiste Mütter“ – als Einzige im | |
| gesamten Raum Hamburg. Sie ist stets ausgebucht. | |
| „Nach einer Totgeburt muss eine Frau ja auch Rückbildungsgymnastik machen, | |
| kann aber schlecht in einen Kurs voller Neumütter gehen. In unseren Kursen | |
| machen wir aber nicht nur Sport, manchmal wird einfach sehr viel geweint. | |
| Dann weine ich mit den Frauen. Ich bin eine von ihnen und habe all das auch | |
| erlebt, was sie durchmachen.“ | |
| ## Ein sicherer Raum | |
| Über ihre „schlimmen Gedanken“ spricht Janette Harazin vor den verwaisten | |
| Müttern ganz offen. „Es ist ein Tabu, zu sagen, dass man einer anderen Frau | |
| das Kind stehlen will. Aber diese Gedanken sind da, und es muss erlaubt | |
| sein, dazu zu stehen.“ Sie hält kurz inne. „Ich hätte es ja niemals | |
| gemacht, aber der Wunsch war da“, fügt sie hinzu. | |
| Neben der Rückbildungsgymnastik bietet Harazin auch Beratung für verwaiste | |
| Väter oder Paare an und schafft so einen sicheren Raum für sie: Bei ihr | |
| kann man alle Ängste und Gedanken äußern und Szenarien durchspielen. Man | |
| kann durch jede Phase der Trauer und Bewältigung mit ihr gehen und am Ende | |
| hoffentlich dort landen, wo sie heute ist: wieder zurückgekehrt. Es gibt | |
| viele Wege, die an diesen Punkt führen können. Für Harazin war es die | |
| weitere Schwangerschaft. Der Weg kann aber für jedes Paar, für jede Frau | |
| anders aussehen. | |
| Als Janette Harazin nach der Totgeburt wieder schwanger wird, fällt es ihr | |
| zunächst schwer, sich gänzlich auf diese freudige Situation, auf das | |
| aufkeimende Leben in ihrem Bauch, einzulassen. Ihr Mann spricht ihr Mut zu. | |
| Der jüngste Sohn freut sich: Er wird nun doch großer Bruder. Harazin | |
| zweifelt immer noch und bucht vorsorglich einen Friedhofsplatz neben dem | |
| des kleinen Benjamin. „Ich musste meine lebendige Tochter erst im Arm | |
| halten um zu verstehen, dass alles gut ist!“, sagt sie und lächelt. | |
| ## Ein Wendepunkt | |
| Sie erzählt von der Erleichterung. Mittlerweile ist ihre Tochter acht Jahre | |
| alt. Die Totgeburt ist für Harazin ein Wendepunkt, ab dem alles neu anfing. | |
| Sie hat gelernt, wie kostbar jeder Moment im eigenen Leben ist, aber auch | |
| im Leben ihrer Kinder. In ihren Kursen versucht sie, diesen Gedanken | |
| weiterzugeben. | |
| Harazins ältester Sohn kann anfangs wenig mit seiner Schwester anfangen. Er | |
| wirkt teilnahmslos – genau wie bei Benjamins Geburt und seinem | |
| gleichzeitigen Tod. Er rebelliert, geht seine eigenen Wege, möchte sich mit | |
| sechzehn unbedingt ein Tattoo stechen lassen. Seine Eltern versuchen, mit | |
| ihrem Ältesten Sohn klarzukommen, möchten verständnisvoll sein, verbieten | |
| aber die Tinte unter der Haut. | |
| Kaum achtzehn Jahre alt geworden, lässt er es dennoch machen. Er kommt nach | |
| Hause, auf seinem Oberarm ist das Geburts- und Todesdatum seines kleinen | |
| Bruders verewigt. „Er meinte dann, dass er die beiden anderen Geschwister | |
| ja an die Hand nehmen kann, den kleinen Benjamin hat er jetzt auf dem Arm.“ | |
| 3 Jan 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Silvia Silko | |
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