# taz.de -- TRAUER: Friedhof der Sternenkinder | |
> Auf einem Schöneberger Kirchhof werden Kinder bestattet, die tot geboren | |
> wurden oder kurz nach der Geburt sterben. Der Ort hilft den Eltern, ihre | |
> Trauer zu verarbeiten. | |
Bild: Ein Ort, losgelöst vom Alltag: Engelsfigur auf einem Friedhof | |
Es war eine Routineuntersuchung, die Ria Schulz die Hiobsbotschaft brachte. | |
Der Ultraschall konnte bei ihrem Kind keinen Herzschlag mehr messen. Der | |
Frauenarzt war sprachlos. Ria Schulz sah es. Ihr Baby war still. Sie | |
weinte. Dabei hatte sie noch am Abend zuvor Lilias Bewegungen in ihrem | |
Bauch gespürt. Das Mädchen war in der Nacht gestorben, weil die Nabelschnur | |
abknickte und es im Fruchtwasser schwimmend nicht mehr versorgt werden | |
konnte. Alles geschah in der 38. Schwangerschaftswoche, kurz vor der | |
Entbindung. | |
Der Gynäkologe meinte, eine Geburt müsse nicht sofort eingeleitet werden. | |
Sie könne den Schock sacken lassen. „Aber ich hatte ein totes Baby im | |
Bauch!“, erzählt die 25-Jährige. Tags darauf ging sie in ein Geburtshaus | |
nach Tempelhof. „Am schlimmsten war, dass mein Kind im Arm kalt wurde, da | |
habe ich mich völlig machtlos gefühlt.“ Das alles geschah im Februar vor | |
einem Jahr. Jetzt im Rückblick kommt es ihr vor, als habe sie in den zehn | |
Tagen bis zum Begräbnis wie in einer Blase gelebt. | |
Wenn die gute Hoffnung auf ein Kind jäh versiegt, dann ist nichts wie | |
zuvor. Die erwachte Elternliebe stürzt in eine Leere, Wünsche und Träume | |
platzen, Zukunftspläne versiegen. Nach den risikoreichen ersten drei | |
Monaten wächst mit dem Kind auch die Zuversicht der Eltern. Statistisch | |
gesehen sterben dann nur noch 4 von 1.000 Babys vor der Geburt. | |
Auf der Beerdigung sprach Ria Schulz selbst zur kleinen Trauergemeinde und | |
fragte, warum ihre Tochter nicht überlebte. Darauf findet sie bis heute | |
keine Antwort. Sie kommt häufig zu Lilias Grab auf dem | |
St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg. Um einen kleinen Apfelbeerenbaum | |
gruppieren sich 80 Gräberchen für Kinder, die im Mutterleib sterben oder | |
kurze Zeit danach. Im Garten der Sternenkinder finden die Eltern einen Ort | |
zum Trauern und Abschiednehmen. Der Boden nimmt die Kinder auf, denen sie | |
Leben schenkten. | |
Neben Lilia liegt Lilli. Geboren am 20. Januar 2009, gestorben einen Tag | |
später. Nur ein kleines Metallschild mit ihrem Namen weist darauf hin, dass | |
sie einmal auf der Welt war. Lilli Esmeralda Niebla Lion. Fast niemand | |
kannte das Mädchen. Petra M.* sitzt lange am Grab ihrer Tochter, die am | |
Turner-Syndrom litt. Ihre Körperzellen wiesen eine Besonderheit auf - ihnen | |
fehlte ein funktionsfähiges X-Chromosom. Nur selten sind die Föten | |
überhaupt lebensfähig. | |
Die Mutter kennt Sätze wie „Ihr seid ja noch jung“ oder „So schlimm kann… | |
doch nicht sein“. Bernd Boßmann vom Förderverein Efeu, der sich um den | |
Kirchhof kümmert, meint: „Das Leid der Eltern wird häufig nicht ernst | |
genommen.“ Viele würden denken, ihnen falle es leicht, über den Tod | |
hinwegzukommen. | |
Erst wenn ein Baby mehr als 1.000 Gramm wiegt, schreibt das Gesetz eine | |
Beisetzung vor. Meistens findet sie anonym in einer Sammelbestattung statt. | |
Anders im Garten der Sternenkinder. Hier bekommt jedes Kind ein eigenes | |
Grab. Boßmann findet Trauerrituale wichtig, weil sie helfen, den Blick | |
wieder in die Zukunft zu richten. | |
Wie schwer der Verlust die Eltern trifft, sei jedoch nicht von der Dauer | |
der Schwangerschaft, sondern von der Bindung der Eltern zu dem Kind | |
abhängig, erklärt Barbara Künzer-Riebel, die selbst ein Kind verlor und | |
seit über zwei Jahrzehnten Frauen und Männer begleitet, die versuchen, | |
diesen Verlust zu überwinden. Auch in der neunten Woche könne der Verlust | |
groß sein. „Der Schmerz kommt wellenförmig, nach dem ersten Schock in einer | |
zweiten und dritten Phase wie ein Strudel“, erläutert sie den Verlauf einer | |
solchen Trauer. | |
Petra M. wusste bereits vor der Geburt, dass ihr Kind bald sterben würde, | |
und sie fürchtete eine unsensible Behandlung im Krankenhaus. Deshalb | |
schrieb sie bis ins Detail auf, wie sie und ihr Baby nach der Entbindung | |
behandelt werden sollten. Als Lilli da war, ließen die Hebammen sie und den | |
Vater Walter Lion im Kreißsaal des Neuköllner Klinikums allein, und die | |
junge Familie kostete ihr kurzes Glück aus. „Lilli hat sich ihre Eltern | |
ausgesucht“, sagt Petra M.. Darüber verspürt die 30-Jährige eine große | |
Dankbarkeit. Und die überwiegt bei ihr gegenüber dem Leid, das mit dem | |
Verlust behaftet ist. | |
Doch als Lillis Jahrestag nahte, erlitt sie einen heftigen Rückschlag. „Ich | |
war regelrecht krank, innerlich wie äußerlich. Fix und fertig, ohne recht | |
begreifen zu können, warum eigentlich.“ Sie beging den Geburtstag mit | |
Freunden. Es gab Kuchen und Punsch. Abends wurde es still und leise, und | |
sie fühlte sich wie in einer Wolke. Jetzt mit einigem Abstand findet sie es | |
richtig, dass sie dieses Ritual gefeiert hat. „Denn Lilli war da. Sie | |
bleibt für immer in meinem Leben.“ | |
Werner Mendling, Chefarzt der Geburtsstationen im Urbankrankenhaus und im | |
Klinikum am Friedrichshain, hat von Petra M. Entbindung gehört. Es komme | |
nicht oft vor, dass eine Mutter ein Baby zur Welt bringt, wenn sie weiß, | |
dass es keine Überlebenschance hat. Natürlich hatten sie Zweifel | |
überfallen, ob nicht alles, was sie durchmachte, sinnlos sei. „Ich verstand | |
nicht, warum ich die kurze Zeit, die ich mit meiner Tochter haben werde, | |
nicht haben sollte“, sagt sie. Sie ist noch immer davon überzeugt, richtig | |
gehandelt zu haben. | |
Mendling beobachtet seit einigen Jahren eine Sensibilisierung für das Leid | |
der Eltern, die ihr Baby verlieren. An seinen Stationen kümmern sich eine | |
Pfarrerin und auf Wunsch auch ein Imam um die Seelsorge. „Trotz des | |
Kostendrucks und der Personalreduzierung in den Kliniken.“ Ein | |
Bewusstseinswandel hat eingesetzt. Denn betroffene Eltern droht der Tod | |
ihres ungeborenen Kindes aus der Bahn zu werfen. | |
Ria Schulz konnte sich monatelang nicht auf ihr Studium der | |
Erziehungswissenschaften konzentrieren. Ihr Freund Stefan Günther wollte | |
eigentlich seine Examensarbeit schreiben, doch auch er musste pausieren. | |
Bei ihm verlaufe die Trauer stiller, meint sie. „Als wollte er sein Leid | |
verdrängen.“ | |
Die Väter reden weniger darüber und sind in sich gekehrt, diese Erfahrung | |
macht auch Barbara Künzer-Riebel. „Viele Männer neigen dazu, sich mit der | |
Arbeit abzulenken; das sind ganz archaische Muster.“ Aber sie warnt davor, | |
dass alles, was nicht verarbeitet wird, zurückkomme, oftmals mit | |
psychosomatischen Beschwerden. Betroffenen Paaren rät sie, miteinander zu | |
reden und sich auszutauschen, um sich über den Verlust des Kindes nicht | |
voneinander zu entfernen. | |
Ria Schulz besucht seit einigen Monaten wieder Seminare, obgleich sie noch | |
immer regelmäßig von Verstimmungen heimgesucht wird. Trost spendet ihr die | |
Gemeinschaft mit anderen Eltern von Sternenkindern. Einmal im Monat treffen | |
sie sich auf dem Kirchhof. Dann sitzen sie in dem Café zusammen, das Bernd | |
Boßbach am Friedhofseingang betreibt, und gehen gemeinsam den Hügel hinauf | |
zum Garten der Sternenkinder. „Dieser Ort ist losgelöst von dem Alltag“, | |
findet Petra M.. Sie hofft darauf, eines Tages wieder frei von der | |
Sehnsucht und dem Schmerz zu sein: „Besser wird es ja. Glücklich kann man | |
wieder sein, denke ich.“ Sie zitiert Ricarda Huch: „Der Frühling kommt | |
wieder / mit Wärme und Helle, / die Welt wird ein Blütenmeer. / Aber in | |
meinem Herzen ist eine Stelle, / da blüht nichts mehr.“ | |
* Der Name wurde von der Redaktion geändert. | |
10 Apr 2010 | |
## AUTOREN | |
Stefan Otto | |
## TAGS | |
Kinder | |
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