# taz.de -- Tagebuch über Lucian Freud: Von Fleisch und Adel | |
> Martin Gayford saß dem Maler Lucian Freud, Enkel Sigmund Freuds, Modell. | |
> Herausgekommen ist ein außergewöhnlich schönes Tagebuch dieser Begegnung. | |
Bild: Der Maler Lucian Freud war der Enkel von Sigmund Freud, dessen Unterschri… | |
Ein Analytiker behauptete mal, es gebe Menschen, die Röntgenbilder von sich | |
anfertigen lassen, um sich ihrer Existenz zu versichern. Harmloser | |
erscheinen da Formen der Selbstvergewisserung, bei denen lediglich das | |
Bild, das wir von uns haben, bearbeitet wird. Und darum geht es ja | |
irgendwie dauernd. Im Sport, beim Sex, im Beichtstuhl. Und manchmal stellt | |
man sich ja ganz bewusst die Frage: „Was ist dieses Ding, das sich „ich“ | |
nennt?“ Und je länger man um die Frage kreist, desto unwirklicher und | |
ungreifbarer scheint das, was man sucht. Eine eigentümliche Verschränkung | |
von Subjekt und Objekt, die bereits in dem Satz „Ich denke über mich nach“ | |
sichtbar wird. | |
Martin Gayford, Londoner Kunstkritiker und Autor erfolgreicher Studien über | |
Constable, van Gogh und Gauguin, stellt sich genau diese Frage nach dem | |
Ich. Während der 150 Stunden, in denen er für den britischen Maler Lucian | |
Freud Modell sitzt, der das Ölporträt „Man with a Blue Scarf“ (2003-2004) | |
von ihm malt. Sie ist nicht bloß Gayfords ganz persönliche Frage, die umso | |
dringlicher wird, je stärker er im Laufe der Stunden und Monate, in denen | |
er unter der Beobachtung des Künstler steht, zu einer veränderten | |
Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit kommt. Nein, die Frage nach dem Ich, | |
so Gayford, ist das zentrale Thema der Porträtkunst. | |
Also legt sein Tagebuch „Mann mit blauem Schal“, in dem er seine Erfahrung | |
als Modell dokumentiert, eine persönliche und eine analytische Spur. Leicht | |
und unprätentiös verschränkt er beide, ohne zu psychologisieren oder | |
überzuinterpretieren. Das Tagebuch, es folgt keiner anderen Dramaturgie als | |
der vorgegebenen: Gayford beschreibt, wie er sitzt, zuweilen ungeduldig, in | |
die Beobachtung des Beobachtetwerdens vertieft, assoziierend, erschöpft, | |
wachsam. Nach den Sitzungen das gemeinsame Essen, für die Geselligkeit und | |
weil es zwischen Malerei und Essen, so der Autor, eine komplizierte | |
Beziehung gibt. Des körperlichen Seins, des reinen Fleisches wegen, das in | |
Freuds Porträts und Aktgemälden einen sujethaften Charakter annimmt. | |
Tatsächlich erzeugen ja die Farben – aus der Nähe betrachtet in groben, | |
erhabenen Spuren aufgetragen, die sich zu einem Relief erheben – eine | |
beinahe fleischige Plastizität. | |
Kritiker warfen Lucian Freuds Realismus vor, er degradiere seine Modelle zu | |
Fleischhaufen, reine Leiblichkeit und der Verweis auf die Sterblichkeit | |
darin seien das Thema. Gayford besteht darauf, dass in Freuds malerischen | |
Studien nichts verallgemeinert und universell ist. Freud will Stimmungen | |
und Gefühle erheben, die Porträts sollen den Personen nicht ähneln, sondern | |
sie zeigen. Das Gespräch, so wird Gayford frühzeitig klar, ist fast ebenso | |
Teil der Arbeit wie das Malen. | |
## Tricks und Einbrüche | |
Gayford zeichnet Freud als anarchischen Charakter, notiert dessen Anekdoten | |
und die oft amüsant-scharfzüngigen Streifzüge durch die Kunstgeschichte. In | |
Paris sei eine Dinnerparty mit Max Ernst und Man Ray recht unamüsant | |
gewesen, weil er Ernsts Persönlichkeit als ziemlich deutsch empfand; | |
Picasso, den er oft in seinem Pariser Atelier besuchte, habe zwar gute | |
Tricks draufgehabt, doch eine starke emotionale Unehrlichkeit besessen. | |
Und Francis Bacon, der andere Maler des Fleisches. Mit ihm verband Freud | |
eine jahrzehntelange Freundschaft. Er liebte die Gefahr und das Kaufhaus | |
Harrods, erzählt Freud seinem Modell Gayford, weil sie ihm nur dort | |
glaubten, dass er sein Geld zu Hause vergessen habe, und weil man dort | |
Hunde mieten konnte, von denen er einen mit ins Bett genommen habe, um | |
einen Asthmaanfall zu erleiden, damit er nicht zum Wehrdienst eingezogen | |
würde. | |
Und dann gibt es in Gayfords Tagbuch noch die Geschichte über Bacons | |
Liebhaber George Dyer, den Freud porträtiert hat („Man in a Blue Shirt“, | |
1965). Dyer war in Bacons Wohnung eingebrochen, und die beiden landeten | |
sofort im Bett, obwohl Dyer gar nicht schwul war. Er mochte Bacon zwar, | |
nicht jedoch seine Angewohnheit, auszugehen, um sich verprügeln zu lassen. | |
Bacon war ein Masochist, Dyer wurde depressiv und brachte sich um. | |
## Schwäche für Kriminelle | |
Freud, so scheint es in Gayfords Tagebuch, hatte eine Schwäche für | |
Kriminelle und Underdogs. In den vierziger Jahren lebte er in London im | |
proletarischen Paddington, wo sich die Mittelschicht nicht blicken ließ, | |
und hing mit Bankräubern ab. Planten sie einen Bankraub, gaben sie Freud | |
einen Hinweis. Freud konnte seine Freunde warnen, damit sie vorher ihre | |
Schließfächer leerten. Das Porträt „A Man and His Daughter“ (1963-64) ze… | |
einen dieser Bankräuber mit seiner Tochter. Freud bewunderte, so Gayford, | |
die Schamlosigkeit. Keine Scham zu kennen kennzeichne nur die Allerbesten | |
und die Allerschlimmsten, zitiert er ihn. | |
In den sechziger Jahren, als seine gegenständliche Malerei „als Idiom des | |
vergangenen Jahrzehnts“ galt, wie Gayford schreibt, in der Ära von Pop Art, | |
Op Art und der abstrakten Malerei, lebte Freud mehr vom Glücksspiel als von | |
seiner Kunst. In dieser Zeit war er dazu übergegangen, mit expressiven, | |
breiten Pinselstrichen zu malen, wodurch er frühere Anhänger seiner | |
linearen Malerei verlor. Freud machte weiter, empfand es als „etwas | |
Erhebendes …, schon fast im Untergrund zu arbeiten“. Nahe Paddington malte | |
er in einem kakerlakenverseuchten, kleinen Atelier: „Der Raum war sehr | |
klein, was wohl der Grund dafür war, dass ich dort so viele große Köpfe | |
malte.“ | |
Gayford beschreibt akribisch die Arbeitsweise Freuds. Allein die Auswahl | |
der Modelle, darunter Adelige, Kriminelle, Schriftsteller, Buchmacher und | |
Säufer, war eine Riesenaktion. Statt eine Gesamtskizze anzufertigen und | |
diese auszuarbeiten, setzte er „einen Farbfleck in die Mitte und arbeitete | |
sich von dort langsam nach außen, um so ein mosaikartiges Farbmuster zu | |
erzeugen“. Die Formen, sie sollten sich „nicht reimen“, zu viel Harmonie … | |
la Raffael empfand er als abstoßend. | |
Tizian hingegen verehrte er, „intim und gewaltig“ erschienen ihm dessen | |
Körper. Mondrians geometrische Formen bewundert er, weil sie „ein Gespür | |
für die Welt in sich haben“. Und bei Goya entdeckt er eine Komik, die alle | |
große Kunst habe. „Gute Bilder“, sagt Lucian Freud, „bringen einen dazu,… | |
zu viele verschiedene Dinge zu denken.“ | |
Während einer Porträtsitzung übermittelt Gayford Freud folgende Sätze von | |
Damien Hirst: „Was ich an Freud liebe, ist dieses Wechselspiel zwischen | |
Darstellendem und Abstraktem. Seine Arbeiten wirken aus der Ferne wie | |
Fotografien, doch wenn man näher kommt, sehen sie aus wie frühe de | |
Koonings.“ Freud antwortet darauf: „Oh, das gefällt mir. Das ist so, als | |
würden die Leute in Paddington sagen:,Lu, deine Bilder sind echt komisch.' | |
„ | |
Vor drei Monaten ist Lucian Freud 89-jährig verstorben. Er hinterließ | |
großartige Gemälde und fast ein Dutzend Kinder. | |
Martin Gayford: „Mann mit blauem Schal. Ich saß für Lucian Freud. Ein | |
Tagebuch“. Aus dem Englischen von Heike Reissig. Piet Meyer Verlag, Bern | |
2011, 248 Seiten, 28,40 Euro | |
17 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
Tania Martini | |
## TAGS | |
Moderne Kunst | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Frank-Auerbach-Ausstellung in Berlin: Wie innere Landschaften | |
Mit Porträts wurde Frank Auerbach weltberühmt. Zum Gallery Weekend eröffnet | |
die Galerie Michael Werner die erste Auerbach-Ausstellung in Berlin. | |
Nachruf Lucian Freud: Mit enorm interessiertem Blick | |
Überdehnte Haut, wund geriebene Stellen, blaue Flecken: Lucian Freud, der | |
Maler der so massigen wie empfindlichen Nacktheit, ist tot. |