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# taz.de -- Streitgespräch Aly vs. Rutschky: "In welcher K-Gruppe waren Sie de…
> Was war 1968? Da liefen die Kinder deutscher Massenmörder Mao hinterher,
> meint Historiker Götz Aly. Publizistin Katharina Rutschky widerspricht -
> sie findet die Praxis, etwa in Kinderläden, viel wichtiger.
Bild: Eine Revolte, zwei Perspektiven: Rutschky und Aly.
taz: Frau Rutschky, an welche Szene erinnern Sie sich, wenn Sie an 1968
denken?
Katharina Rutschky: Eine schöne Szene war der Vietnam-Kongress im Februar
1968. Wir hatten das Gefühl: Uns gehört die Zukunft. Jetzt sind wir dran.
Ich habe zwei schöne Sachen erlebt: 1968 und die Wiedervereinigung
Also war 68 ein Fest?
Rutschky: Fest? Na ja. Wir kriegten Luft unter die Flügel. Wir im SDS waren
elitär. Wir waren wenige, aber immer die Besten. Wir hatten die meisten
Bücher gelesen, waren am besten informiert etc. Und dann merkten wir, dass
wir plötzlich von einer Grundwelle getragen wurden. Dass damals Feltrinelli
mit Sprengstoff anreiste, der im Kinderwagen von Rudi Dutschke
transportiert wurde - das wussten wir ja nicht.
Welche Szene erinnern Sie, Herr Aly?
Götz Aly: Es gibt die Fotos von Michael Ruetz. Da sieht man immer das
Gleiche: ein paar oft bärtige, wild gestikulierende Protestprotze und eine
stille Frau. Das ist die Sprache der Bilder: drei Männer und eine Frau. Es
gab damals ja weniger als 25 Prozent Frauen an den Hochschulen. Das hat
auch die Dynamik dieser Revolte sehr stark befördert.
Mit mehr Frauen hätte es keine Revolte gegeben?
Aly: Wenn das Geschlechterverhältnis ausgeglichen gewesen wäre, wäre es
anders gelaufen. Es war ja ein Tanz auf dem Affenfelsen. Es gab an den
Universitäten wenig Frauen - und gleichzeitig die Pille und die sexuelle
Revolution. Bei Reimut Reiche steht, dass schon Freud gesagt habe, dass
protestierende Männer über ganz besondere sexuelle Qualitäten verfügten -
also XXL-Männer seien. In diesem Sinne verfolgten die sexuelle Selbst- und
vor allem Fremdbefreiung sehr unmittelbare Zwecke. Das war lustig, hatte
aber mit Emanzipation nicht viel zu tun.
Haben Sie 1968 nicht als Befreiung empfunden?
Aly: Doch. 1967 siezten sich die deutschen Studenten ja noch. Da war man
Fräulein Schmidt und Herr Aly. Man trug Faltenrock oder Krawatte und
Jackett und kriegte einen Nervenzusammenbruch, wenn man zum Professor in
die Sprechstunde musste. Aber all die Befreiungsschriften von damals sind
Müll, unerträglich. Nicht nur die Theorie, auch die Schriften zu den
Kinderläden. Es steht kein vernünftiger Satz drin, nichts, was man heute
noch mit Gewinn lesen könnte.
Und "Sexfront" von Günter Amendt?
Aly: Ach was, lächerlich. Blöde und altmodisch.
Waren die Männer auf den Fotos denn damals Vorbilder für Sie, Herr Aly?
Aly: Ja, klar. In Berlin war das das SDS-Trio Rudi Dutschke, Bernd Rabehl
und Christian Semler. Natürlich haben wir damals "Die Rebellion der
Studenten" gelesen. Aber da stehen Dinge drin, da zieht es Ihnen die Schuhe
aus. Da sagt Dutschke sinngemäß: Wenn wir nach dem Tod von Benno Ohnesorg
den Widerstand nicht fortsetzen, machen wir uns zum Juden. Stellen Sie sich
vor, ein brandenburgischer Bürgermeister würde heute sagen: Wenn wir den
Widerstand gegen eine Müllverbrennungsanlage oder ein Ausländerheim nicht
fortsetzen, machen wir uns zum Juden. Der Kerl würde morgen im politischen
Orkus verschwinden. Aber damals war Dutschke ein Vorbild. Das Radikale war
schön. Man konnte die Welt erklären und hatte immer Recht. Das war
wunderbar. Wenn man sich heute anschaut, womit wir diesen eigenen
kulturellen Raum füllten, erfasst einen das Grauen.
Zum Beispiel?
Aly: Der Personenkult, die Mao-Begeisterung. Die Kinder der deutschen
Massenmörder sind damals einem Massenmörder hinterhergerannt. Ich hab auch
eine Mao-Plakette getragen. 1968 war ein Spätausläufer des europäischen
Totalitarismus - und besonders des deutschen.
Rutschky: Herr Aly, entschuldigen Sie, aber jetzt rege ich mich auf! Damals
wurde in den Kinderläden doch eine andere Pädagogik erfunden, verdammt noch
mal. Herr Aly, Sie reden, wie Renegaten es oft tun, über sich - und
verallgemeinern. In welcher K-Gruppe waren Sie denn? Ich war in keiner.
Hier, ich habe meinen Ausweis der "Falken" mitgebracht, unterschrieben 1960
von Holger Börner. Und meinen SDS-Ausweis. Ich muss mich, anders als Sie,
für nichts entschuldigen. Ich bin nicht hinter Thälmann hergerannt. Ich
habe auch Dutschke nie verstanden. Der war nett und charmant, aber
verstanden hat ihn keiner. Ich hatte eine kurze Mao-Phase - Jan Myrdals und
Edgar Snows Bücher über China waren damals ja populär. Ich kannte das
Ausmaß der Hungersnot dort nicht. Und Sie auch nicht.
Aly: Ja, ich wusste es auch nicht.
Rutschky: Aber Sie tun heute so, als wäre 1968 eine Symptomatik des
deutschen Faschismus: die Kinder der Massenmörder. Ich bin kein Kind eines
Massenmörders. Meine Familie ist seit 1906 quasi in der SPD. Und ich war
immer politisch, so wie viele, die damals demonstriert haben. Manche haben
sich damals an den Leithirschen orientiert, sind in K-Gruppen gegangen oder
sogar bei der RAF gelandet. Das ist nicht meine Geschichte. Ich habe als
Kind einer Arbeiterfamilie studiert. Sich als Frau durchzusetzen war
schwierig. Auch an der liberalen FU wurde man als Frau nur HiWi und nie
Assistent. Das war einfach noch nicht drin. Trotzdem ging es für viele
Frauen im SDS und der Gewerkschaft aufwärts. Zwischen 1969 und 1972 sind
300.000 junge Leute zwischen 18 und 25 in die SPD eingetreten. Aber in dem
Bild von 1968 kommt das nicht vor: sondern nur Jugend, Rebellion,
pittoreske Sexualität mit Uschi Obermaier. Das wird gehypt, bis heute. Sex
und Gewalt. Und ich ärgere mich tot, welche Öffentlichkeit diese
RAF-Gangster haben: diese Inge Vietts und Irmgard Möllers, denen noch das
Mikro hingehalten wird.
Aly: Sie haben nach meiner Biografie gefragt. Also: Jahrgang 1947. Ich kam
im November 1968 nach Berlin. Ich habe die Zeitschrift Hochschulkampf 1970
mitgegründet. Das war eine Zeitung der Roten Zellen. Ein schreckliches
Blatt, wenn ich heute darin lese. Von 1971 bis 1973 war ich bei der damals
sehr radikalen Roten Hilfe. Wir fanden damals den Genossen Mahler, der die
RAF gegründet hatte, sehr toll - und Ströbele, der damals noch SPD-Mitglied
war, viel zu reformistisch, um in diesem sozialistischen Anwaltskollektiv
in die großen leeren Schuhe des verhafteten Horst Mahler zu passen. Ich
habe mich auch mit meinen Schriften aus dieser Zeit beschäftigt. Die waren
meist anonym, ich hätte mich gar nicht dazu bekennen müssen. Aber ich
dachte, ich will meinen Kindern erklären können, was ich damals getrieben
habe. Deshalb habe ich ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel: "Unser
Kampf: 1968 - ein irritierter Blick zurück".
Aha. Waren die Roten Zellen auch Maoisten?
Aly: Wir waren doch alle Maoisten. Frau Rutschky behauptet: Das war eine
Phase, wir haben uns für etwas Fernes begeistert. Vom Terror konnte man
nichts wissen. Ich bin Historiker und habe geprüft, was man hätte wissen
können. Der große deutsche China-Experte lehrte damals an der FU Berlin und
hieß Jürgen Domes. Der hat seit 1966/67 systematisch veröffentlicht, was
dort passiert. Wer in den Selbstmord getrieben wurde, er hat Zahlen über
die Hungersnot in China veröffentlicht: 10,5 Millionen - das war allerdings
zu niedrig. Enzensbergers Kursbuch veröffentlichte 1967 einen Text von
Joachim Schickel über die Kulturrevolution, der sich hauptsächlich auf
einen Zeugen stützte, den deutschen Ökonomen Max Biehl, der in der NS-Zeit
Chef der Grundsatzabteilung des Deutschen Wirtschaftsministeriums im
besetzten Polen in Krakau gewesen war. Der hatte China bereist und fand
die, wie er sagte, etwas strenge Entwicklungspolitik, die
Kapitalakkumulation zulasten der Massen, sehr angenehm. Das waren unsere
Quellen! Wir haben damals unsere Eltern gefragt: Was hättet ihr von den
Verbrechen im Nationalsozialismus wissen können? Aber wir selbst wollten
von den Massenmorden und Gewalttaten in China nichts wissen. Das ist doch
erschütternd. Wir hätten viele Details kennen können. Die Zerstörung von
Kirchen und Tempeln, die Unterdrückung buddhistischer Mönche, das ist
1967/68 alles publiziert worden. Wir hätten es wissen können. Aber es
wollte niemand wissen.
Rutschky: Nein, Herr Aly. Ich war zum Beispiel kein Maoist. Ich war
Antiantikommunist, und China diente gewissermaßen der politischen
Selbstpositionierung in der Bundesrepublik. Das verkennen Sie im Nachhinein
ja völlig. Wir haben doch nicht in China Politik gemacht, wir haben keine
Bücher über China geschrieben. Wir haben gehofft, dass es etwas anderes
gibt als diesen grauenhaften DDR-Sozialismus. Da kriegte man als
Antiautoritäre ja schon an den Grenzübergängen Anfälle. Herr Aly, Sie waren
damals 20 und ich ein bisschen älter. Ich kam aus dem sehr theoretischen
SDS. Und aus dem SPD-Milieu. Und ich kam von unten und hatte auch viel zu
verlieren.
Aly: Es gibt sehr große Unterschiede in unserer Biografie
Rutschky: Ja, und es gab damals nicht nur Maobegeisterung. 1969, als SPD
und FDP die Wahl gewonnen hatten, haben wir - alles Linke - ein Wahlfest
gemacht.
Aly: Frau Rutschky, dass Sie mit ihrer sozialdemokratischen
Familientradition, das Totalitäre nicht mitgemacht haben, ehrt Sie
außerordentlich
Rutschky: Nein.
Aly: Sie müssen mir nicht immer widersprechen.
Rutschky: Doch. Weil Sie mich marginalisieren wollen. Ich bin aber nichts
Besonderes. Ich vertrete 68, und zwar den Großteil der Bewegung und nicht
die Leithirsche.
Aly: Nein. Sie vertreten nicht 68.
Rutschky: Doch. Sie glauben, Sie vertreten 68, weil Sie Schuldgefühle
haben. Weil Sie etwas falsch gemacht haben.
Aly: 85 Prozent der Studenten kamen aus bürgerlichen Elternhäusern. Leute
mit ihrem familiären Hintergrund waren damals innerhalb dieses
Hochschulsystems marginal, Frau Rutschky. Sie gehörten zu einer Minderheit,
die über die SPD-Gewerkschaftsschiene aufgestiegen sind. Die Mehrheit der
Studenten an der Freien Universität waren Krawallschwaben. Sie kamen aus
dem süddeutschen Raum, aus relativ autoritären Elternhäusern. Es waren
regelrechte Repressionsflüchtlinge. Und diese süddeutschen Staaten, die
reformunfähig waren, Bayern, Baden-Württemberg, auch Nordrhein-Westfalen,
haben ihr Rebellionspotenzial in dieses relativ freie,
reformerisch-sozialdemokratisch regierte Westberlin abgeschoben. Sie haben
das Problem ausgelagert. Dafür müssten Sie eigentlich heute noch
Entschädigung an Berlin zahlen. Und dann haben Strauß und Filbinger auch
noch gesagt: "Diese unfähigen Berliner Politiker". Dabei waren die Rebellen
doch Kinder ihrer Klientel.
Welcher Repression sind die denn konkret entflohen?
Aly: Nehmen Sie die Prügelstrafen an Schulen. Wir sind bis ins Alter von
14, 15 von unseren Lehrern verdroschen worden.
Haben Sie es als Befreiung empfunden, in die Studentenszene Westberlins zu
kommen?
Aly: Ja, sicherlich.
Und was war dann so schrecklich dort?
Aly: Zum Beispiel wie wir Richard Löwenthal gesehen haben. Löwenthal war
Professor in Berlin. Er war in der Weimarer Zeit Kommunist gewesen, hatte
im Nationalsozialismus im Untergrund gekämpft, sich dann vom Stalinismus
abgesetzt, war nach Großbritannien geflohen und kam als Journalist und
später Berater Willy Brandts zurück. Als ich an die Universität kam, habe
ich den nicht wahrgenommen, weil er als rechts galt. Ich rannte zu einem
Mann namens Johannes Agnoli - der uns durchaus erzählte, dass er der
faschistischen Partei in Italien angehört hatte. Verschwiegen hat er uns,
dass er sich 1943 bei der Besetzung Italiens durch die deutsche Wehrmacht
freiwillig über die Waffen-SS zur Wehrmacht gemeldet hat und zwei Jahre in
der Partisanenbekämpfung in Jugoslawien eingesetzt war. Dieses Faktum hat
er uns verschwiegen. Er hat sich an der Wahrheit entlanggelogen und das
eigentlich Wichtige in seiner Biografie weggelassen. Wolfgang Kraushaar hat
ja gezeigt, wie Agnoli in seiner Parlamentarismuskritik an die
faschistische Parlamentarismuskritik angeknüpft hat. Wir waren da sehr
empfänglich. Frau Rutschky, Sie nicht, weil Sie älter waren und einen
anderen Hintergrund hatten. Aber das sind meine Erfahrungen gewesen - und
das bedrückt mich heute. Es gab an der FU ausgezeichnete Professoren. Etwa
Ernst Fraenkel oder Kurt Sontheimer, der ein großes Buch über
antidemokratisches Denken in der Weimarer Zeit verfasste. Aber all diese
möglichen Lehrer haben uns nicht interessiert.
Aber war denn die Neigung zu dem Exfaschisten Agnoli und die Ablehnung des
Reemigranten Löwenthal typisch? Es gab 1967/68 doch vor allem eine
Wiederentdeckung vertriebener Juden, von Walter Benjamin, Theodor Adorno.
War das nicht das Hauptsächliche? Und es gab 1968 ja auch den
Rehse-Prozess, der mit einem Freispruch endete - für einen Richter an
Freislers Volksgerichtshof. Das hat die Bewegung als Skandal wahrgenommen.
Aly: Ich weiß, ich war bei der SDS-Demo nach dem Urteil dabei. Aber das war
rein funktional. Das war im Rahmen der Justizkampagne des SDS. Es gab da
3.000 Verfahren gegen sogenannte Krawalltäter. Der SDS wollte Stimmung
gegen die Justiz machen.
Rehse war doch ein Symbol für die Kontinuität der NS-Eliten in der
Bundesrepublik
Aly: Nein. Es ging um die Delegitimierung des Justizapparats, nicht um die
NS-Vergangenheit.
Rutschky: Herr Aly, vom wem sprechen Sie eigentlich?
Aly: Von mir.
Rutschky: Gut. Dann sagen Sie das dazu. Denn es gab eine Tradition der
Beschäftigung mit der NS-Zeit, nicht nur im SDS, sondern in der Linken.
Dazu gehörte der Protest gegen den Rehse-Prozess, dazu gehörte Peter Weiss
Auschwitz-Stück, die Beschäftigung mit dem Auschwitz-Prozess. Ich habe als
Teenager "Nacht und Nebel" von Resnais gesehen. Mich hat das berührt.
Aly: Mich auch. Da sind wir uns einig.
Rutschky: Nein! Das Bewusstsein, das fatale Erbe wachzuhalten, war ein
starkes moralisches Motiv der Achtundsechziger. Das wusste sogar die RAF,
die mit Schleyer einen NS-Täter ermordete. Die RAF wusste, dass dies der
wunde Punkt der Achtundsechziger war, an dem sie uns kriegen konnten. Und -
Sie reden immer von Akten und Texten und von ihren Post-festum-Weisheiten.
Diese Texte haben mich damals nicht besonders interessiert - und sie tun es
heute auch nicht. Ich wollte ja für das Leben studieren. Wir haben
antiautoritäre Erziehung praktiziert. Warum? Weil wir den faschistischen
Charakter beseitigen wollten. Auch bei den Kinderläden stand die
NS-Vergangenheit im Hintergrund. Die Kinderläden gibt es ja heute noch. Das
ist nach wie vor noch ein wunderbares Modell. Das war auch 68.
Aly: Frau Rutschky, ich möchte Sie etwas fragen: Wie war das mit den
NS-Prozessen? An welche Prozesse erinnern Sie sich?
Rutschky: Es gab den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964. Aber ich war nicht
dort.
Aly: Frankfurt dauerte von 1963 bis 1965. Gab es noch welche?
Rutschky: Wissen Sie, es ist mir unangenehm, wie Sie fragen. Es ist auch
unangenehm, wie Sie argumentieren. Das hat was
Aly: Interessant
Rutschky: Sie fragen mich ja nicht nur. Sie insinuieren etwas. Sie haben ja
eine ganze Theorie im Hintergrund. Sie versuchen mit historischen Lektüren
post festum auf der Basis eines schlechten Gewissens ein Fortleben des
Faschismus im deutschen Sozialcharakter nachzuweisen. Das ist
Schuldgefühlsökonomie bis zum Gehtnichtmehr, gestützt
vonTotalitarismus-Verdächtigungen. Unangenehm ist, dass Sie jetzt im
Nachhinein so wahnsinnig schlau sind. Sehen Sie denn nicht, wie jung Sie
damals waren? Und dass die meisten, die bei Agnoli studiert haben, keinen
Schaden an ihrer Seele genommen haben?
Aly: Ich wollte ja nur sagen, dass wir an der FU durchaus ordentliche
Lehrer hatten. Die waren doch diesen Discount-Professoren, die wir als
Studenten später in die Universitäten gehievt haben, hundertfach überlegen.
Rutschky: Sie sind mir zu jesuitisch und inquisitorisch.
Aly: Warum schimpfen Sie eigentlich so auf mich?
Rutschky: Weil das eine wichtige Zeit für mich war. Außerdem waren wir
damals ja nicht nur von morgens bis abends Achtundsechziger. Man war noch
verliebt, hatte Karriereängste und Prüfungsstress. Es war doch nicht so,
dass dauernd die Polizei vor der Tür stand.
Aly: Die Frage ist doch, warum junge Deutsche auf Agnolis
Parlamentarismuskritik, die inhaltlich und lebensgeschichtlich beim
Faschismus anschloss, so abgefahren sind. Und warum wir Mahnungen von
Löwenthal, Dahrendorf und anderen überhört haben. Und warum heute niemand
weiß, dass 1968 das Jahr mit den meisten NS-Prozessen in der Geschichte der
Bundesrepublik und den meisten lebenslänglichen Verurteilungen war. 1968
enden 30 riesige Prozesse, 23 mit lebenslanger Haftstrafe. 1968 sind an die
3.000 neue Ermittlungsverfahren neu eröffnet worden. Doch für die
Studentenbewegung war das kein Thema. Es gab kein Teach-in dazu, Sie finden
in keiner linksradikalen Zeitung dazu Artikel. Es wurde öffentlich
verhandelt: über Treblinka, Sobibor, Belzec, Auschwitz, Sachsenhausen.
Täglich stand etwas darüber in der Zeitung. Die Vergasungsversuche durch
das Reichskriminalpolizeiamt wurden thematisiert. Aber die Studenten
interessiert es nicht
Wie erklären Sie sich das?
Aly: Die Bewegung flieht vor der NS-Zeit in ein theoretisches Gebäude und
in den Internationalismus. Und der Internationalismus heißt - deutlich in
der Parole USA - SA - SS -, die Last der deutschen Vergangenheit nach außen
zu exportieren, verdünnt und verallgemeinert, denn es ist überall
Faschismus. Das ist eine Flucht aus der eigenen Nationalgeschichte. Das
machte die Sache attraktiv. Und zwar nicht, weil die Gesellschaft über die
NS-Zeit schwieg - sondern weil sie davon redete.
Rutschky: Herr Aly, Sie wissen, dass es 1968 viele NS-Prozesse gab. Schön -
aber die Justiz konnte doch dieser Schuld nicht gerecht werden. Sie kann
Täter lebenslänglich einsperren - aber das reichte doch nicht. Wir fühlten
uns damals alle schuldig. Wir sind ins Ausland gereist und haben Englisch
gesprochen, weil wir wussten - "Scheiße, wir kommen aus diesem Land". Bei
meiner ersten Auslandsreise mit den "Falken" wurden wir noch angepöbelt.
Ich habe das ja verstanden. Auch wenn wir das als sozialistische Jugend
ungerecht fanden.
Aly: Wenn Sie glauben, Sozialdemokraten hätten prinzipiell mit dem
Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt, irren Sie.
Rutschky: Na, Sie haben ja eine moralische Lupe vorgeschaltet, die ist ja
schon richtig lebens- und menschenfeindlich. Da gibt es nicht den Funken
eines Konsenses zwischen uns. Sie suchen so richtig bösartig nach den
Schuldspuren in der Vergangenheit, und Sie sehen nicht, was 68 in der
Breite bewirkt hat, nämlich eine Grundwelle von Liberalisierung und
Demokratisierung.
Herr Aly, wie kann denn eine, wie Sie sagen, totalitäre Bewegung wie die
Achtundsechziger-Bewegung zu einer kulturellen Liberalisierung führen?
Aly: Durch eine Niederlage. Dafür muss man sich die Geschichte der
Bundesrepublik veranschaulichen. Das Konservative der Adenauer-Republik
nach 1945 war historisch gesehen notwendig. 18 Millionen Männer waren
Soldaten gewesen und haben ganz Europa verwüstet. Sie kamen traumatisiert
zurück, weil ihnen die Gewalt auf die eigenen Köpfe gefallen ist - Gott sei
Dank. Nach diesem Größenwahn musste dieses Volk einfach zur Ruhe gebracht
und gedeckelt werden. Deswegen der Reformstau in der Adenauer-Ära, diese
Bewegungsunfähigkeit. Zwischen den Jugendlichen herrschte nach 1945 ein
enorm gewalttätiges Klima. Es gab einen Sadismus auf dem Schulhof, das
glaubt heute kaum einer mehr. Die Zwischengeneration - die Generation Kohl,
die Wapnewskis und Dahrendorfs - spürten dieses Dumpfe und wollten mehr
liberale Reformen. Die waren am Anfang Sympathisanten der
Studentenbewegung. Selbst Kohl findet in seinen Erinnerungen positive Worte
über die Studentenbewegung. Aber diese Generation Kohl wandte sich 1968 ab,
weil sie merkte: Da steckt etwas Wildes, Totalitäres drin. So wird diese
große Chance verspielt. Die Studenten fielen in den Totalitarismus zurück,
in die Spurrillen unserer Dreiunddreißiger-Eltern, die ja auch schon eine
Studentenbewegung ins Werk gesetzt hatten, die mit ähnlichen Methoden
operierte hatten. Die "Bewegung" - ein widerliches Naziwort - denunziert
die ernsthaften Reformer als "Scheißliberale". Deshalb hat die
Studentenbewegung für die Liberalisierung der Republik eher einen
verlangsamenden Effekt als einen beschleunigenden.
Frau Rutschky, Herr Aly, aus der Distanz betrachtet: Welchen Effekt hatte
68 für die Republik?
Aly: 1967/68 war Ausdruck einer Gesellschaftskrise der Republik, die
Studenten zeigten die deutlichsten Symptome dieser Krise. Die Gesellschaft
hat sich in dieser Krise erneuert - im Erziehungssystem, im Schulwesen, in
dem, was man unter Pressefreiheit versteht, in der Offenheit der eigenen
Geschichte gegenüber.
Also ist es doch eine Geschichte zum guten Ende hin - angestoßen durch die
Revolte?
Aly: Nein, nicht angestoßen durch die Revolte. Die Revolte war nur das
Symptom. Die Achtundsechziger haben daran keine besonderen Verdienste.
Rutschky: Doch, haben sie. Viele Gesellschaften stecken in Krisen - ohne
dass sich etwas ändert. Es stimmt: Es gab damals eine Mischung aus
politischem Gangstertum und narzisstischem Größenwahn - vor allem bei
Männern. Das hat Gerd Koenen in "Das rote Jahrzehnt" gezeigt. Und
vielleicht ist das noch nicht ganz aufgearbeitet.
Aber die Bundesrepublik brauchte damals - wohl mit allem Wahnsinn am linken
Rand - diese Luft unter die Flügel. Das war die Studentenbewegung. Kann
sein, dass viele für falsche Helden demonstrierten, aber sie haben gezeigt,
dass man überhaupt demonstrieren kann. Die Krise allein hat gar nichts
bewegt. Das haben damals junge Leute gemacht, die sahen, dass man etwas tun
kann: im Bildungswesen, im Umgang der Behörden mit Bürgern, in der Öffnung
des Kleinbürgertums nach außen. Es waren Leute, die später
Bürgerinitiativen gründeten und nicht auf den Staat warteten. Und die keine
Vorhänge mehr vor den Fenstern hatten.
27 Dec 2007
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