# taz.de -- Russischer Tango: Schiffbruch mit Musik | |
> Eine Erinnerung an den russischen Tango, der nicht zum Sozialismus | |
> passte: Melodischer und melancholischer als der argentinische. | |
Bild: Nicht nur in Südamerika wird viel getanzt. | |
So klingt eine Umarmung von Mephistopheles. Der teuflisch eindringliche | |
Rhythmus wird noch verstärkt von traurigem Gesang und den sanften Tönen | |
eines Akkordeons. Immer kühner wiegt sich der Tango im Angesicht der | |
drohenden Katastrophe. | |
Das melancholische Lied handelt von einer Frau, die ihren Mann verlässt. | |
„Utomljonnyje solnzem“ (Die erschöpfte Sonne) gehörte 1937 zu den | |
beliebtesten Liedern der Sowjetunion. Dieser Ohrwurm berührte die Menschen, | |
just als stalinistischer Staatsterror und Selbstzerstörung der | |
Kommunistischen Partei ihren Höhepunkt erreichten. | |
In Restaurants, Kneipen und Konzertsälen, überall konnte man dieses | |
diabolische Lied aus der Feder des polnischen Komponisten Jerzy | |
Petersburski hören. „Utomljonnyje solnzem“ war die Begleitmusik zu Stalins | |
Schreckensherrschaft: Angst vor den unangekündigten Besuchen der | |
Geheimpolizei NKWD und den Schauprozessen des Großinquisitors Andrej | |
Wyschinski, Folterungen im Keller der Lubjanka und Massenhinrichtungen von | |
Unschuldigen am Stadtrand von Moskau. | |
All das klingt an in „Utomljonnyje solnzem“, einem düsteren Stück Musik, | |
gehalten in unerbittlichem Rhythmus, geschrieben in Moll, wie viele | |
russischen Tangostücke. „Musikwissenschaftlich gesehen sind die Stilmittel | |
von Petersburski regelrecht dämonisch“, erklärt der Tangoexperte Dmitri | |
Dragilew, der in Berlin-Weißensee lebt. „Es geht um Liebe und Abschied. Das | |
ist kein gewöhnliches Liebeslied. Es klingt wahrhaftig monströs.“ | |
Mit dem gesellschaftlichen Kontext vor Augen wird die Musik zum Abgesang | |
darüber, Gutes zu wollen, aber daran zu scheitern – es geht um die Liebe zu | |
hohen Idealen, die verraten werden. Die Gesellschaft erleidet Schiffbruch, | |
als die Sowjetunion im Jahr 1937 von der Spirale des stalinistischen | |
Terrors erfasst wird. | |
## Ein Evergreen | |
„Petersburskis Melodie ist ein Evergreen. Alle Russen kennen sie. Das Lied | |
wird heute noch gespielt. Immer wieder taucht es in Filmen und neuen | |
Versionen auf“, sagt Dmitri Dragilew. Der Autor des Buches „Labyrinthe des | |
russischen Tangos“ komponiert auch selbst. Dragilew wuchs im sowjetisch | |
geprägten Riga vor 1989 auf und kennt diese Musik seit der Kindheit. | |
Seine Blütezeit hatte der russische Tango von den zwanziger bis in die | |
vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Inzwischen steht er im | |
Schatten seines berühmten argentinischen Verwandten. Bereits 1913 gelangte | |
er – als argentinischer Import – via Paris nach Russland. „Tango wurde zw… | |
populär, aber eigenes Interesse an diesem Stil zeigten die russischen | |
Komponisten erst in den zwanziger Jahren“, erklärt Dragilew. | |
Allerdings haben sie Tango fast immer als Alltagsmusik interpretiert. Eine | |
Ausnahme stellte Alexander Wertinski dar, Komponist der ersten russischen | |
Tangos. Wertinski verließ die Sowjetunion bereits 1920. Russischer Tango | |
ist generell melodischer und melancholischer als der argentinische. Die | |
Lieder knüpfen an die reiche Tradition russischer Romanzen an. | |
Dieser Einfluss wird oft mit Elementen traditioneller Volkslieder gemischt. | |
Außerdem ist russischer Tango rhythmisch weniger prägnant als sein | |
südamerikanisches Pendant. „Der russische Tango eignet sich daher besser | |
für Konzerte als zum Tanzen“, sagt Dmitri Dragilew. | |
## Boom vor dem zweiten Weltkrieg | |
Die Hochzeit des Tangos am Anfang in der Sowjetunion vergleicht er mit den | |
Goldenen Zwanzigern im Weimarer Deutschland oder dem Jazz- Age in den USA: | |
Man wünschte sich ein sorgenfreies Leben und wollte mit der Musik auch die | |
Schrecken des Ersten Weltkrieges vergessen. | |
In den zwanziger Jahren begann in der Sowjetunion allgemein eine | |
Renaissance der Kunst. Das Jahrzehnt war durch die Neue Ökonomische Politik | |
geprägt, private Handelsaktivitäten und Kleinbetriebe waren erlaubt. | |
Überall öffneten Kabaretts, Theater und Tanzhallen. Ein neues Bürgertum | |
entstand. In seinen Kreisen war Tango äußerst beliebt. Tangolieder | |
thematisierten fremde Länder und unbekannte Situationen: Seeleute in | |
Marseille, Kneipen in Argentinien oder ein schmieriges Bordell. | |
Tango schaffte seinen Durchbruch in einer Zeit gewalttätiger politischer | |
Umwälzungen in ganz Osteuropa. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg erlebte der | |
Tango in Russland einen erneuten Boom. Im Jahre 1940 wurde der polnische | |
Tangokomponist Oskar Strock deshalb sogar sowjetischer Staatsbürger. | |
In jenem Jahr kam es auch zum Winterkrieg zwischen Finnland und Russland. | |
Dadurch gerieten auch die Finnen in Berührung mit der russischen | |
Unterhaltungsmusik. Mit großen Folgen: Heute genießt Tango in Finnland und | |
in Argentinien den Status von Nationalmusik, nicht so in Russland, dort ist | |
er weitgehend vergessen. | |
## Mysteriöse Umstände | |
Die bekanntesten sowjetischen Tangos entstanden in der Zeit des Ausbruch | |
des Zweiten Weltkriegs. Polnische Komponisten – viele jüdischer Herkunft – | |
emigrierten in die Sowjetunion. Sie retteten sich vor dem Einmarsch der | |
Wehrmacht. Unter ihnen sind Musiker wie Eddie Rosner und Jerzy | |
Petersburski. Von ihnen ließen sich viele ihrer russischen Kollegen | |
inspirieren, sich eingehender mit Tango zu beschäftigen. Im Jahr 1940 wird | |
Lettland der Sowjetunion angegliedert, und so gerät auch der polnische | |
Komponist Oskar Strock in die Sowjetunion. | |
Komponisten wie Strock, Pjotr Leschtschenko, Eddie Rosner und Wadim Kosin | |
werden schwere Schicksale erleben. Leschtschenko etwa kämpfte, überaus | |
fragwürdig, in der rumänischen Armee an der Seite der Nazis gegen die | |
Sowjetunion. Niemand zwang ihn, im besetzten Odessa Konzerte zu geben. So | |
kam es, dass einer der größten Stars des russischen Tango nach Kriegsende | |
im kommunistischen Rumänien in Haft kam. | |
Leschtschenko hatte eng mit Oskar Strock zusammengearbeitet und sang in | |
Strocks schönsten Tangokompositionen „Tjornyje Glasa“ (Schwarze Augen), | |
„Skaschite Potschemu“ (Sag mir warum) und „Moje Posledneje Tango“ (Mein | |
letzter Tango). Er starb 1954 unter mysteriösen Umständen in | |
Securitate-Haft. „Man kann vermuten, dass der NKWD eine Rolle dabei | |
spielte“, erklärt Dmitri Dragilew. | |
Der Trompeter Eddi Rosner flüchtete aus Polen und kam erst in der | |
Sowjetunion zu Ruhm. Aber sein Erfolg hielt nur wenige Jahre. Dann startete | |
die sowjetische Führung eine stark antisemitisch geprägte Kampagne gegen | |
den „Kosmopolitismus“: Rosner wurde in der Zeitung Iswestija als | |
„drittklassiger Trompeter für West-Cabaret“ verspottet. | |
## Konzerte für Gefangene und Wärter | |
Bei einem Fluchtversuch wurde er 1946 vom NKWD in Lemberg aus dem Zug | |
gezerrt und ins Hauptquartier des Geheimdienstes, die Moskauer Lubjanka, | |
verschleppt. Von dort ging es weiter in die Verbannung, nach Magadan im | |
Osten Sibiriens, einem berüchtigten Gulag-Lager. | |
In Sibirien gelang es Rosner, eine Musikgruppe zu gründen. Er spielte | |
Konzerte für Gefangene und Wärter. Rosner hat den Gulag überlebt, er wurde | |
1954 entlassen, kehrte zurück nach Moskau und fing mit neuem Orchester von | |
vorne an. Der Tenor Vadim Kosin dagegen wurde nach seiner Festnahme 1944 | |
nicht rehabilitiert. Wie Rosner wurde auch er nach Magadan verschleppt. | |
Kosin spielte den Behörden zufolge „dekadente Musik“ – er wurde für sei… | |
Homosexualität bestraft und starb in Magadan, nach fast 50 Jahren in der | |
Unfreiheit, 1994. | |
Auch Oskar Strocks Auffassung von Tango entsprach nicht dem, was die | |
sowjetischen Behörden erlaubten. Für Dragilew ist Strock der unumstrittene | |
König des russischen Tango. „Er ist zum Opfer des Kalten Krieges geworden, | |
damals stand alles Westliche unter Verdacht. Strock, ein erklärter | |
Lebemann, war leichtes Ziel für die Repression, weil er vor dem Krieg im | |
unabhängigen Lettland gewohnt hat. Seine Tangos waren auch im Westen sehr | |
populär – erste Erfolge feierte er in Berlin. Bis 1932 nahm er | |
Schallplatten für deutsche Labels auf. | |
Nach 1945 wurde bekannt, dass einer der engsten Mitarbeiter Strocks – sein | |
Interpret Pjotr Leschtschenko – kollaboriert hatte. „Außerdem war Strock | |
Jude und komponierte Musik, die nichts mit der Ideologie des Sozialismus zu | |
tun hatte“, sagt Dragilew und ergänzt: „Die Musik von Strock wurde in den | |
späten vierziger Jahren verboten und er wurde aus dem lettischen | |
Komponistenverband ausgeschlossen. Strock wurde mehr als zwanzig Jahre | |
kaltgestellt. | |
## Erklärter Lebemann | |
Seine Lieder durften nicht mehr gespielt werden. Erst kurz vor seinem Tod | |
in den frühen 1970er Jahren wurde er rehabilitiert, und es erschienen | |
einige seiner Alben beim sowjetischen Label Melodija. Seiner Popularität | |
half das nicht besonders. Strocks Talent und Arbeit haben nie die | |
dauerhafte Anerkennung bekommen, die sie verdienen.“ | |
Selbst in Russland ist heutzutage der südamerikanische Tango weiter | |
verbreitet als die einheimische Variante, aber Dragilew spürt zunehmendes | |
Interesse an der alten Tradition: „Ich sehe das unter anderem an der Art | |
und Weise wie Musiker, Historiker und Musikwissenschaftler Interesse | |
zeigen.“ | |
Wenn man sich für die historische Aufnahmen interessiert, eignen sich | |
insbesondere die Aufnahmen von Pjotr Leschtschenko, findet Dmitri Dragilew. | |
Als gelungene zeitgenössische Interpretation von russischem Tango empfiehlt | |
er die Gruppe Cuarteto SolTango: „So respektvoll, prägnant und konsequent | |
arbeitet mit russischen Tango sonst niemand.“ Auch Dmitri Dragilew | |
versucht, mit eigenen Veröffentlichungen, Kompositionen, Tourneen und neuen | |
Texten für alte Lieder den russischen Tango dem Vergessen zu entreißen. | |
9 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Jens Malling | |
Oliver Will | |
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