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# taz.de -- Prozesse gegen Sexualstraftäter: Der lange Weg durch das Schweigen…
> In Frankreich finden mehrere Prozesse gegen Sexualstraftäter statt.
> Darunter der gegen den Arzt und pädophilen Serientäter Joël Le Scouarnec.
Bild: Joel Le Scouarnec vor Gericht in Vannes
Wie Bomben mit Spätzünder explodieren derzeit in Frankreich Enthüllungen
von äußerst schweren Sexualverbrechen, „rekordverdächtigen“ Serientätern
und lange Zeit verdrängten oder vertuschten pädophilen Missbräuchen und
Vergewaltigungen.
Mit Schrecken und Scham blickt die französische Gesellschaft auf eine
Vergangenheit zurück, in der Institutionen, die berufliche Umgebung, aber
manchmal auch Familienangehörige von Opfern lieber wegschauten, als Alarm
zu schlagen. Diese Epoche der Omertà, des auferlegten Schweigens, soll
vorbei sein. Das ist die Botschaft mehrerer Prozesse und Enthüllungen in
den Medien.
Nach dem weltweit verfolgten [1][Prozess gegen Dominique Pelicot,] den
Enthüllungen über den Obdachlosenpriester Abbé Pierre oder die unzähligen
Misshandlungen von Schülern im Knabeninternat Notre-Dame de Bétharram
zeichnet sich ab, dass weitere ebenso schockierende Verbrechen an den Tag
kommen, die lange unter Verschluss gehalten wurden.
Auf der Anklagebank des Gerichts von Vannes in der Bretagne sitzt seit
einigen Tagen ein eher unauffälliger Mann mit Brille und einem weißen
Haarkranz. Der 74-jährige Joël Le Scouarnec sieht aus wie irgendein
Rentner, es handelt sich aber um den vermutlich schlimmsten pädophilen
Sexualtäter der französischen Kriminalgeschichte. Der ehemalige Facharzt
für Darmchirurgie hat in seinen Tagebüchern Buch geführt: Er hat Details
und Namen notiert und kommentiert, was er in rund 30 Jahren über 300
Kindern angetan hatte.
## Die Kinder der Schwester als Opfer
Zu den Opfern, um die es in diesem Prozess ging, gehörten auch die Kinder
seiner Schwester. Die ganze Familie war schockiert, als am fünften
Prozesstag Le Scouarnec zudem gestand, dass er auch seine Enkelkinder
sexuell missbraucht hätte.
Beim in der letzten Woche eröffneten Prozess in Vannes ist er wegen
Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauchs von insgesamt 299 Minderjährigen
unter 15 Jahren angeklagt. Ihr Durchschnittsalter betrug elf Jahre. Nicht
nur diese Zahlen schockieren, sondern auch die Tatsache, dass Le Scouarnec
seine Tätigkeit als Arzt missbrauchte, um sich zwischen 1989 und 2014
zuerst in seiner privaten Klinik und später als Chirurg in öffentlichen
Krankenhäusern an oft noch anästhesierten Kindern zu vergehen. Und dies,
ohne je aufzufallen oder überführt zu werden. Die Operationssäle und
Krankenzimmer wurden für diesen Serientäter laut Le Monde zum „Jagdrevier�…
Alarmzeichen hatte es gegeben. Eine Information kam von der
US-Bundespolizei FBI, die Le Scouarnecs Namen und Kreditkarten beim Kauf
von Kinderpornos im Darkweb registriert und an die französischen Behörden
weitergeleitet hatte. Er wurde im November 2004 von der Gendarmerie
vorgeladen, hatte aber Zeit, eventuell belastendes Material vor einer
Hausdurchsuchung zu beseitigen. Nach einer Verurteilung zu vier Monaten auf
Bewährung notierte er im Tagebuch: „Ich bin nochmals entronnen.“
Verhängnisvoll war, dass anschließend diese Verurteilung keine Folgen für
seine ärztliche Karriere im Kontakt mit Kindern hatte. Als er sich 2005 für
einen Chefarztposten im bretonischen Quimperlé bewarb, warnte zwar ein
Psychiater, der gerüchteweise von Le Scouarnecs Verurteilung gehört
hatte, brieflich die Ärztekammer und die Krankenhausdirektion. Diese
bestellte daraufhin in Vannes einen Auszug aus dem Strafregister. Darin
aber war nichts aufgeführt, weil der zuständige Gerichtsdiener mit dem
Aktualisieren stark in Verzug war.
Die Ärztekammer wiederum leitet die Sache an die regionale Sozial- und
Gesundheitsdirektion weiter, die ihrerseits das Dossier an die Behörde des
Departements sandte, die es an das Gesundheitsministerium schickte, von wo
es retourniert wurde und so vorerst versandete. Und Le Scouarnec bekam 2006
seine Stelle. Als später seine Vorstrafe doch noch der Direktion in
Quimperlé mitgeteilt wurde, behielt sie wegen des Personalmangels den
Chirurgen.
## Erst 2017 wurde Scouarnec verhaftet
Ähnlich reagierte 2008 auch die Krankenhausdirektorin in Jonzac im
Département Charente-Maritime, die Kenntnis von Le Scouarnecs Vorstrafe
hatte, aber ihn dennoch anstellte, weil die Fachärzte Mangelware waren und
weil er angeblich „so nett“ war.
Erst im April 2017 wurde Le Scouarnec verhaftet, nachdem er sich an der
sechsjährigen Tochter eines Nachbarn in Jonzac vergangen hatte. Bei einem
ersten Prozess unter Ausschluss der Medien 2000 war er für vier belegte
Missbrauchsfälle zu 15 Jahren verurteilt worden. Beim jetzigen Prozess muss
er mit der Höchststrafe von 20 Jahren rechnen.
Céline Astolfe, die im Prozess als Anwältin die Nebenklägerin Fondation
pour L’Enfance (eine Kinderschutzstiftung) vertritt, führt den
Institutionen deren Verantwortung vor: „Dass diese Kammern, Stellen im
Ministerium und Krankenhausdirektionen nicht intervenierten, ist ein
wichtiges Thema in diesem Prozess. Für die Opfer, und damit so etwas nicht
wieder geschehen kann, müssen wir das verstehen können.“
Um andere Institutionen, Behörden und Ministerien geht es beim Skandal um
das katholische Internat Notre-Dame de Bétharram in der Nähe von Pau.
Inzwischen haben 150 ehemalige Schüler gegen Angehörige des Erziehungs- und
Aufsichtspersonals Klage wegen Misshandlung und Vergewaltigung in der Zeit
zwischen 1950 und 2004 eingereicht. Mehrere der beschuldigten Geistlichen
und Laienbrüder sind verstorben. Einer der Beschuldigten war 2024 noch im
Dienst.
## Man schiebt sich die Schuld gegenseitig zu
Das auf Enthüllungen spezialisierte Onlinemagazin [2][Médiapart ] hat
eine wesentliche Rolle gespielt, um diese Vergangenheit der renommierten
religiösen Privatschule am Rande der Pyrenäen aufs Tapet zu bringen.
Ungewollt hat der amtierende Premierminister François Bayrou ebenfalls dazu
beigetragen, weil er im Parlament auf die Frage eines Abgeordneten
behauptete, er habe in den 90er Jahren als Bürgermeister von Pau, als
Vorsitzender der Départementsbehörden, als Erziehungsminister und vor allem
als Vater von drei Kindern, welche die Schule von Bétharram besuchten, „von
Gewalt und erst recht von sexueller Gewalt“ nichts gewusst oder gehört.
Für Médiapart ist das eine „Lüge“. Als 1998 gegen den vormaligen Direktor
des Internats wegen Vergewaltigung eines Schülers ermittelt wurde, kam
Bayrou nach Angaben des damaligen Untersuchungsrichters, um sich als Vater
eines Schülers in Bétharram zu erkundigen. Nach einer zweiten
Vergewaltigungsklage brachte sich der Ex-Direktor in Rom ums Leben. Damit
war die Akte Bétharram wieder und auf lange Zeit geschlossen. Es wurde
weitergeschwiegen, und die Misshandlungen und sexuellen Missbräuche gingen
(fast bis heute) weiter.
Im Nachhinein schieben sich die lokalen Verantwortlichen und nationalen
Aufsichtsbehörden gegenseitig die Schuld zu. Niemand fühlte sich für die
Kontrolle des Internats zuständig, obschon dieses wie andere Privatschulen
vom Erziehungsministerium finanziert wird. Dass der Bétharram-Skandal kein
Einzelfall war, belegen nun Klagen gegen andere religiöse Privatschulen,
aber auch gegen staatliche Einrichtungen in Frankreich. Als unantastbar
galt zu Lebzeiten der Obdachlosenpriester Abbé Pierre. Er war in Frankreich
als Gründer der Emmaus-Gemeinschaft und Held der Résistance ein Idol und
starb 2007 hochgeehrt.
Im Sommer 2024 wurde aufgrund eines Untersuchungsberichts der
Emmaus-Stiftung bekannt, was in der Stiftung und der kirchlichen Hierarchie
viele oft seit Jahrzehnten wussten: Dieser die Nächstenliebe predigende
Priester war für Frauen und Mädchen in seiner Nähe ein Scheusal. Die Zahl
der registrierten Opfer seiner Belästigungen und Vergewaltigungen beläuft
sich auf 57. Ein Teil dieser Geschichte war bei der Kirche mit
Briefwechseln von 1950 bis 1971 aktenkundig. Schon in den 50er Jahren
warnten Bischöfe, Kardinäle oder auch der Apostolische Nuntius intern die
Kirche vor dem „ungehörigen“ Verhalten des populären Obdachlosenpriesters.
Auch der Vatikan war informiert.
Für Frankreich war es ein Schock, als im Nachhinein die Wahrheit herauskam.
Die französische Bischofskonferenz hat aus den Skandalen gelernt und mit
dem Bericht einer unabhängigen Kommission (CIASE) die finsteren Kapitel der
sexuellen Missbräuche von Geistlichen dokumentiert.
Die sich häufende Zahl von Prozessen und Enthüllungen stellt einen
Hoffnungsschimmer für viele Opfer dar, die aus Furcht oder Scham schwiegen.
Aber auch eine ernsthafte Warnung für alle, die aus Rücksicht auf ihre
Interessen oder Angst ihnen bekannte sexuelle Vergehen und Verbrechen
lieber verharmlosten. Selbst der Angeklagte Joël Le Scouarnec scheint sich
gerade erst seiner Grausamkeit bewusst zu werden: „Ich habe grässliche
Dinge getan. Und ich bin mir völlig im Klaren, dass diese Wunden
unauslöschlich und unheilbar sind.“
6 Mar 2025
## LINKS
[1] /Vergewaltigungsprozess-um-Gisele-Pelicot/!6054526
[2] https://www.mediapart.fr/en/journal/france/250225/ex-surgeon-admits-despica…
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
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