# taz.de -- Pharmastudien unter Verschluss: Der große Grippekrach | |
> Der Pharmakonzern Roche soll Studienergebnisse zum Grippemittel Tamiflu | |
> erheblich geschönt haben. Forscher wollen in einer Studie die | |
> unveröffentlichten Daten untersuchen. | |
Bild: Vorsorglich eingelagert: Tonnen mit Tamiflu-Wirkstoff in Nordrhein-Westfa… | |
BERLIN taz | Wenn es nach Gerd Antes geht, ist der Fall so symptomatisch | |
wie klar: „Große Teile unseres medizinischen Systems leben davon, dass | |
Dinge im Unklaren gehalten werden.“ Der Leiter des Cochrane-Zentrums | |
Deutschland kämpft seit Jahren für mehr Transparenz auf dem | |
Medikamentenmarkt und scheint nur zu verärgert, um zu resignieren. Die | |
Pharmawächter der internationalen Cochrane Collaboration stellen bei ihren | |
Untersuchungen von Studiendaten oftmals fest, dass Pharmafirmen unliebsame | |
Daten zurückhalten oder entscheidende Studien gleich selbst bezahlen. | |
Gerade startet Antes‘ Kollege Tom Jefferson eine neue Sichtung | |
unveröffentlichter Studien zum Grippemittel Tamiflu, mit dem der Basler | |
Pharmakonzern Roche vor allem dank der Pandemie-Bevorratung Milliarden | |
umgesetzt hat. Jefferson hat festgestellt, dass sich entscheidende | |
Ergebnisse öffentlicher und nichtöffentlicher Studie widersprechen. Auch | |
soll Roche durch Einflussnahme und Zurückhalten unliebsamer Ergebnisse die | |
Resultate verzerrt haben. | |
Nun will er es genau wissen. Kommende Woche wird er das Konzept seines | |
Studienvorhabens veröffentlichen: Alle bisher unveröffentlichten Studien | |
über Neuraminidase-Hemmer wie Tamiflu sollen neu gesichtet werden. Der | |
[1][im Internet einsehbare Entwurf] klingt ernst. | |
Zuletzt 2009 nahm ein Cochrane-Team den Roche-Blockbuster unter die Lupe | |
und kam dabei zu einem niederschmetternden Ergebnis: Zwar könne die | |
frühzeitige Einnahme von Tamiflu eine Grippeerkrankung um wenige Tage | |
verkürzen. Doch auf die im Zentrum der Pandemiedebatten stehenden | |
gefährlichen Folgeerkrankungen habe das Mittel keinen signifikanten | |
Einfluss. | |
Für Roche sind solche Nachrichten eine PR-Katastrophe. Entscheidend für die | |
Milliardenbestellungen vieler Regierungen zur Pandemievorsorge war die | |
Eindämmung von Komplikationen wie Lungenentzündungen, die zum Tod führen | |
können. | |
Das Vertrauen der Regierungen in die Wirksamkeit von Tamiflu hat Roche | |
fantastische Erfolge beschert: Während der Schweine- und Vogelgrippe setzte | |
der Konzern zwischen 1,6 und 2,1 Milliarden Euro mit Tamiflu um. In | |
normalen Grippe-Jahren sind es zwischen 230 und 470 Millionen Euro. | |
Allerdings: Laut Cochrane stützen sich praktisch alle Annahmen über die | |
gute Wirksamkeit von Tamiflu auf nur eine Studie: die von Laurent Kaiser | |
aus Genf. Von fünf Autoren standen vier auf der Roche-Gehaltsliste. Das | |
hatte 2009 ein japanischer Kinderarzt dem Cochrane-Team gesteckt, ist aber | |
auch auf dem Abstract der Studie im Internet vermerkt. | |
Die Cochrane-Leute fanden heraus, dass von zehn Studien, die Kaiser und | |
sein Team auswerteten, nur zwei veröffentlicht waren. Vor allem aber die | |
Ergebnisse der nicht veröffentlichten klinischen Tests sollen die Resultate | |
deutlich zum Positiven verzerrt haben. Nur in diesen acht Studien sei | |
Tamiflu wirksamer als ein Placebo gewesen. | |
Überprüfen lässt sich aber nur, was öffentlich ist. Im Bericht der | |
Pharmawächter heißt es: „Es gibt eine Serie von Widersprüchen zwischen | |
unveröffentlichten und veröffentlichten Versionen von klinischen Tests.“ | |
Von klaren „Verzerrungen“ ("bias“) durch den Konzern ist die Rede, von | |
unterdrückten Daten, außerdem von einem „komplexen Netz von Ghostwritern“ | |
und Einflussnahme auf Publikationen durch den Basler Hersteller. | |
Zu solchen Widersprüchen zählt ein Detail, das Roche auf Nachfrage nicht | |
auflösen konnte: Kaiser streicht heraus, dass der Tamiflu-Wirkstoff | |
Oseltamivir Komplikationen auch bei Risikogruppen reduziere. Gerade für | |
diese wäre ein Grippemittel besonders wichtig. | |
Auf der Roche-Internetseite zu Tamiflu für den US-Markt findet sich | |
allerdings ein vielsagender Eintrag: Bei Risikogruppen sei „kein | |
Unterschied im Vorkommen von Komplikationen zwischen Medikament und | |
Placebo“ zu erkennen. In Europa musste man das wohl niemandem auf die Nase | |
binden. | |
Seit einem Jahr nun streiten Roche und Cochrane-Leute über den freien | |
Zugang zu allen klinischen Daten. Roche erklärt: „Wir sind verpflichtet, | |
Vertraulichkeit und Datenschutz für den Patienten zu gewährleisten. So | |
haben wir Daten bereits an andere wissenschaftliche Gruppen gegeben, die | |
bereit waren, eine Vertraulichkeitserklärung zu unterzeichnen, dies hat | |
Cochrane nicht getan.“ Dort wiederum sagt Studienleiter Jefferson, man | |
warte seit einem Jahr auf den Zugang zu wirklich allen Daten. | |
2009 sorgte der Bericht der wirtschaftlich unabhängigen Cochrane-Gruppe vor | |
allem in Großbritannien und in Fachzeitschriften für Wirbel, in Deutschland | |
wurde er schwächer rezipiert. Nun bläst Cochrane zum nächsten Angriff: Im | |
Januar wird das Konzept der neuen Studie angekündigt, die die bisher nicht | |
veröffentlichten Tamiflu-Daten auswertet. In dem Entwurf, den Jefferson | |
bereits ins Internet gestellt hat, ist auch von stärkeren Nebenwirkungen | |
des Mittels bis zu psychotischen Reaktionen bei Kindern die Rede. Roche | |
spielt diese auf Nachfrage als übliche Grippesymptome herunter. | |
Auch wenn Roche darauf verweist, dass die Wirksamkeit von Tamiflu in | |
zahlreichen Studien nachgewiesen sei und Kliniken auch 2009 gute Erfolge | |
reportierten: Politisch ist die Debatte um die Pandemievorsorge heiß. | |
Zahlreiche Regierungen hatten Tamiflu in Milliardenwert geordert und | |
eingelagert, Deutschland allein für etwa 200 Millionen Euro. Anlass dafür | |
gab auch die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Doch die, | |
davon ist der Freiburger Cochrane-Mann Antes überzeugt, kannte auch nur die | |
Kaiser-Studie, an der Roche-Mitarbeiter beteiligt waren. „Die WHO stützt | |
sich auf vermeintliches Wissen.“ Und die Politik schaue dabei weg. „Es ist | |
ein fürchterlicher Sumpf.“ | |
Antes führt als Beispiel die Schweinegrippe an. Als 2009 in Deutschland bis | |
zu 35.000 Tote befürchtet wurden, hatte die Südhalbkugel ein halbes Jahr | |
Vorlauf. Australien etwa hatte diese dokumentiert: Die Grippesaison hatte | |
insgesamt 169 Opfer gefordert, bei 22 Millionen Einwohnern kein | |
aufsehenerregender Wert, so Antes. „Die Politik ignoriert aber publiziertes | |
Wissen. Es existiert eine Unfähigkeit, mit Fakten umzugehen. Oder der | |
Unwille dazu.“ Angesichts der regelmäßigen Impfaufrufe gegen die Grippe, | |
die gerade wieder von den Ämtern ausgehen, weist Antes auch auf finanzielle | |
Details hin: Solange die Impfstoffe nur gelagert sind, zahlen die Länder. | |
„Werden sie benutzt, zahlt aber die Krankenkasse.“ | |
Zum aktuellen Datenstreit zwischen Roche und Cochrane passt Antes‘ alte | |
Forderung: „Es gibt keinen Grund, Informationen über Studien nicht | |
öffentlich zugänglich zu machen.“ Es sei denn, man wolle Firmeninteressen | |
schützen. Es geht aber um Menschenleben. | |
14 Jan 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.editorial-unit.cochrane.org/neuraminidase-inhibitors-influenza-h… | |
## AUTOREN | |
René Zipperlen | |
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