# taz.de -- Oasis-Entdecker über Britpop: „Großbritannien ist am Ende“ | |
> Musik-Impresario Alan McGee hat ein Label gegründet, das junge Musiker | |
> unterstützt. Ein Gespräch über Politik, Boulevard, und warum er nie die | |
> Tories wählt. | |
Bild: Wo gibt es heutzutage noch Musik? In Castingshows? „Das ist Karaoke, ni… | |
taz: Mr. McGee, Sie wurden schon oft mit dem Satz zitiert, dass gute | |
Popmusik aus der Arbeiterklasse kommen muss. | |
Alan McGee: Ich weiß nicht, hab ich das wirklich so gesagt? Na denn, aus | |
der Arbeiterklasse kommt einfach Musik mit mehr Seele als aus der | |
Mittelklasse. Aber ob diese Leute bessere Popmusiker sind … Ich glaube | |
nicht, dass Klassenzugehörigkeit das gewisse Etwas ausmacht. | |
Was an der britischen Arbeiterklasse ist denn besonders, warum ist sie so | |
mythenumrankt? | |
Was die Leute aus der Arbeiterklasse machen, kommt einfach mehr aus dem | |
Bauch heraus, sei es beim Fußball, sei es in der Politik oder eben in der | |
Musik. Die Leute haben mehr Leidenschaft, mehr Seele. Sie haben eben kein | |
Sicherheitsnetz, keinen reichen Daddy oder eine reiche Mami. Aber wir | |
sollten diese Aufteilung endlich mal über den Haufen werfen. Wir haben in | |
Großbritannien mittlerweile so viele Leute, die längst nicht mehr zur | |
Arbeiterklasse gehören. Einen Job zu haben ist in meinem Land schon fast | |
ein Privileg. Es gibt keine Jobs. | |
Ich habe vor kurzem in einer Disco in Cardiff für Arbeitslose Platten | |
aufgelegt. Das war unglaublich. Ich habe Acid-House-Platten aufgelegt, und | |
ganze Familien haben dazu getanzt. Ich habe mich mit Leuten unterhalten, | |
die meisten konnten es sich nicht mal leisten, an der Bar etwas zu trinken | |
zu kaufen. Das ist die Unterklasse. Deutschland ist doch der | |
wirtschaftliche Motor von Westeuropa. Großbritannien ist verdammt noch mal | |
am Ende. Wir haben keine produzierende Industrie mehr, und die Leute werden | |
von den Zinsen aufgefressen. Mit dem bisschen Geld, das sie bekommen, | |
können sie ihre Schulden nicht bezahlen. | |
Ich frage, weil man über Sie lesen konnte, dass Sie inzwischen den | |
konservativen Premier David Cameron unterstützen. | |
Ha! Also bitte, jetzt machen Sie mal halblang. Das steht bei Wikipedia, | |
oder? Über mich kann man woanders auch lesen, dass ich die | |
Liberaldemokraten unterstütze und dass ich für die Labour Party sei. Dass | |
ich ein Päderast wäre, stand auch schon mal irgendwo. | |
The Sun habe ich mal gesagt, dass mein Engagement für die Labour Party | |
scheiße war. Und natürlich unterstützt dieses Boulevardblatt die Tories. | |
Mich haben sie in dem Gespräch gefragt, ob ich irgendetwas an den Tories | |
gut fände. Mir ist absolut nichts eingefallen, also habe ich gesagt: David | |
Cameron sieht im Vergleich zu Ed Miliband wenigstens aus wie ein Führer. | |
Mehr hab ich nicht gesagt, und jetzt heißt es, ich würde die Tories | |
unterstützen! Nie im Leben habe ich die Tories gewählt! | |
Das hätte mich auch gewundert. Unter David Cameron hat die Arbeiterklasse | |
ja nun wirklich keine Zeit mehr, Popmusik zu machen. | |
Das ist wahr. Die Gewerkschaftsvereinigung Trades Union Congress hat mich | |
eingeladen, auf einer Kundgebung vor 50.000 Menschen zu sprechen, zusammen | |
mit Peter Hooton von der Band „The Farm“. Also, ich stehe ganz bestimmt | |
nicht den Tories nahe. Aber ich würde im Übrigen auch nicht Labour wählen. | |
Sind Sie noch politisch aktiv? Ihr Engagement für New Labour haben Sie ja, | |
wie viele andere Popstars, bereut. „Cool Britannia“ war halt doch nicht so | |
cool. | |
Cool Britannia hat es nie gegeben. Der Ausdruck wurde von der Times | |
geprägt, einer konservativen Tageszeitung. Wir wurden 17 Jahre von den | |
Tories regiert und wollten sie einfach nur loswerden. Noel Gallagher und | |
ich hatten darum beschlossen, die Labour Party zu unterstützen, aber wir | |
hatten doch keine Ahnung, dass Tony Blair nichts anderes war als Margaret | |
Thatcher Teil 2. Wir waren unglaublich optimistisch. Wir dachten, wir | |
könnten das Land verändern. | |
Und die Regierung Cameron ist noch schlimmer als Thatcher, im Ernst. Die | |
Kürzungen in der Sozialhilfe lassen eine ganze Generation ohne Hoffnung | |
zurück. Die jungen Leute fallen durchs soziale Netz, ihre Eltern haben auch | |
kein Geld, also werden sie obdachlos. Und das bedeutet letztendlich | |
Drogenabhängigkeit. Bei uns wächst gerade eine verlorene Generation heran. | |
Es ist fast unmöglich, als junger Arbeitsloser einen Job zu bekommen, und | |
dann muss man noch zwei- oder dreimal die Woche aufs Amt rennen, aber man | |
kriegt nichts dafür. | |
Wer keine wohlhabende Familie hat, fällt durchs Netz. Und dann werden noch | |
Gesetze vorbereitet, die Sozialbetrug härter bestrafen. Da drohen | |
jahrelange Haftstrafen, und diese Leute haben doch wirklich keine Lobby. Es | |
sind seltsame Zeiten, das ist schon totalitär, was bei uns passiert. Es | |
wird immer mehr wie in den USA. Wir werden ein Gefängnisstaat: Entweder man | |
sitzt im Gefängnis, oder man bewacht einen Insassen. Hier entsteht eine | |
Gesellschaft ohne Gewissen. Bei uns genauso wie in Griechenland oder in | |
Irland. Und das ist gefährlich. Klingt das jetzt nach jemandem, der David | |
Cameron unterstützt? (lacht) | |
Jeremy Hunt, der unter Cameron Kulturminister wurde, hatte offen davon | |
gesprochen, dass reiche Philanthropen künftig die Kürzungen im | |
Kulturbereich durch ihr Engagement kompensieren sollten. Sie haben eine | |
Menge Geld mit Creation Records gemacht, jetzt wollen Sie mit Ihrem neuen | |
Label [1][359 Music] junge Musiker unterstützen – da passen Sie aber | |
perfekt in das Kulturkonzept der Tories. | |
Ich bin doch kein Philanthrop! Ich habe im Übrigen viel mehr Geld mit | |
Immobilien und Kunst gemacht als mit Musik. Aber ich verdamme auch nicht | |
Leute, weil sie Geld haben. Ich habe Geschwister, die ich finanziell | |
unterstütze. Ich finde es in Ordnung, dass Sie mir Fragen zur Politik | |
stellen. Aber das ist doch alles wahnsinnig kompliziert. | |
In Ordnung, dann sprechen wir doch wieder über Musik. | |
Musik ist was Magisches. Mit Musik kann man Seelen heilen. Musik geht über | |
Sprache hinaus. Darum war House auch so groß und hat sich international so | |
durchgesetzt, denn es ging dabei ums Tanzen. Oder denken Sie an | |
französische Bands wie „Daft Punk“ oder „Air“, das hatte nichts mit der | |
Herkunft der Musiker zu tun, es war einfach gute Musik und darum | |
international. Aber egal welche Art von Musik – Musik heilt Menschen. | |
Nichts gegen Protestsongs, es gibt fantastische Protestsongs. Aber meine | |
Meinung ist: Das Leben ist hart genug. Musik besänftigt die Menschen, sie | |
hat eine heilende Wirkung, darum geht es. | |
Aber dann ist Musik doch nur Opium fürs Volk. | |
Es ist nichts falsch daran, sich besser zu fühlen. Es gibt so viel Schmerz | |
in der Gesellschaft, und darum haben wir so viele Drogenabhängige und | |
Alkoholiker. Und Workaholics. Und Sexaholics. | |
Und Musikaholics? | |
Ja, die vielleicht auch. Aber es ist ja schon schwer genug, die Leute | |
überhaupt noch dazu zu bringen, dass sie Musik hören. Wir sind doch völlig | |
überfordert (holt sein Smartphone hervor) – man bekommt ständig E-Mails zu | |
allen möglichen Themen. Hier drin schaut man nach Flugplänen und | |
Hotelreservierungen. Und dann fragt noch einer, was man zum Abendessen | |
vorhat. Telefone sind die neuen Computer und Computer die neuen Fernseher. | |
Und sie bringen uns dazu, uns wie Maschinen zu verhalten. Und am Ende macht | |
man nur noch so wenig von den Dingen, die man gerne machen würde. Zum | |
Beispiel sich hinzusetzen und Musik zu hören. Oder „Breaking Bad“ zu sehen. | |
Das ist schon Luxus. | |
Und dazu kommt auch noch, dass es immer mehr Musik gibt. Wer soll das denn | |
noch alles hören? | |
Die Leute hören sowieso nur noch vier oder fünf Minuten zu. Musik ist | |
Luxus. Aber warum ich ein neues Plattenlabel mache und jemanden wie Pete | |
MacLeod unterstütze: Er schreibt seine eigenen Songs, er schreibt seine | |
eigenen Texte, hat seine eigene Meinung – und er wählt sogar seine | |
Klamotten selbst aus. Die Plattenmultis wollen mit solchen Leuten doch gar | |
nichts zu tun haben. Die geben den Leuten die Songs, die sie singen sollen, | |
die Meinungen, die sie von sich geben sollen. Daran ist nichts Echtes mehr. | |
Und natürlich geht Pop immer mehr in diese Richtung, angefangen hat’s mit | |
„Stock Aitken Waterman“. | |
Und heute haben wir die Castingshows. Das ist Karaoke, nicht mehr. Und in | |
der Politik sieht es genauso aus. Egal welche Partei, die Kandidaten sind | |
alle Anfang/Mitte 40, alle etwas übergewichtig und alle für den Sparkurs. | |
Nur ihre Krawatten haben verschiedene Farben. Einzig und allein daran kann | |
man sie unterscheiden. | |
Aber es gibt eine Menge Leute, die sagen, dass die Hits aus den | |
Castingshows sie glücklich machen. Daran dürfte nach Ihrer Theorie ja | |
nichts falsch sein. | |
Das ist wahr. Meine Tochter ist 13, sie liebt „X-Factor“. Ich glaube nur, | |
wenn man Mitte 20 ist und diese Musik immer noch gut findet, dann stimmt | |
was nicht mit einem. Und ich weiß nicht, ob so jemandem noch zu helfen ist. | |
18 Nov 2013 | |
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[1] http://359music.co.uk/ | |
## AUTOREN | |
Dirk Schneider | |
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