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# taz.de -- Nachruf auf Alain Resnais: Die Handschrift des Desasters
> In seinen Filmen erforschte er, wie aus der fragmentierten Form Neues
> entsteht. Der große französische Regisseur Alain Resnais ist tot.
Bild: Alain Resnais 2012 beim Filmfestival in Cannes.
Ein Mann taucht schnorchelnd aus dem Meer auf, ganz so wie das Bild aus den
Tiefen der Erinnerung. Er macht ein paar Schritte auf das Ufer zu, aus
dessen Richtung ihm die Frage zufliegt, was er denn alles gesehen habe.
Bevor er antworten kann, springt die Szene zurück an ihren Anfang. Der Mann
ist wieder unter Wasser. Es gibt keine herkömmlich lineare Verkettung der
Bilder mehr. Bruchstücke eines Lebens formen ein Mosaik, das eher wie ein
undurchdringliches Labyrinth erscheint. Eigensinnig schillern die
Einzelteile, ohne ein einheitliches Ganzes zu ergeben.
Der Film, der mit dieser ungewöhnlichen Erzählweise operiert, heißt „Je
t’aime, je t’aime“ und stammt aus dem Jahr 1968. Der Regisseur Alain
Resnais, der nach dem Erfolg mit „Hiroshima, mon amour“ (1959) und „L’A…
dernière à Marienbad“ (1961) damals schon als Inbegriff des kunstsinnigen
Autorenfilmers galt, legte hier auf spielerische – und für seine Maßstäbe
recht explizite – Weise dar, was ihn an den Möglichkeiten des Kinos
faszinierte: Die Zeitreise des Protagonisten Claude Ridder (Claude Rich),
der sich in der eigenen Erinnerung an seine Liebe zu Catrine (Olga
Georges-Picot) und die toten Zeiten seines Daseins zunehmend verliert, ist
in dem Sinn Science-Fiction, dass sie eine andere Zukunft des filmischen
Ausdrucks erprobt.
Dabei war für Resnais, der am Samstagabend im Alter von 91 Jahren in Paris
verstarb, weniger der Bruch mit Konventionen entscheidend, sondern das, was
aus der fragmentierten Form heraus neu entstehen kann. Nicht länger lösen
sich Szenen in den darauffolgenden auf, vielmehr beharren die Bilder auf
ihrer Besonderheit. Die Krise im Erzählen besteht darin, dass wir nicht mit
Gewissheit sagen können, warum das eine auf das andere folgt. Resnais
stellt dies nicht einfach dar, er überwindet es auch gleich, indem er eine
Vielzahl anderer, ebenso plausibler Verbindungen von Bildern und Tönen
aufzeigt.
Das klingt sperriger, als es ist. Resnais, der Pariser Rive-gauche-Gruppe
um Chris Marker und Agnès Varda zugehörig – und damit der frenetischen
Cinephilie der Cahiers-Leute um Godard und Co eher fern –, kokettierte
stets mit Untertreibungen seiner Funktion: Er sei kein Autor, eher ein
Spielleiter, ein Einrichter, ein Regisseur. Tatsächlich arbeitete Resnais
zuerst als Cutter und schrieb seine Filme nie selbst, sondern in
Zusammenarbeit mit handverlesenen Autoren wie Alain Robbe-Grillet, Jean
Cayrol, David Mercer oder Jacques Sternberg.
## Die Lust am Jonglieren
Vielleicht ist die durch Vorlagen entstehende Distanz dafür entscheidend,
dass sich die Lust einstellt, mit den einzelnen Elementen zu jonglieren. In
„Muriel ou le temps d’un retour“ (1963), einem der anspruchsvollsten Filme
Resnais’, variiert er Erzähltempi, erzeugt pausenlos falsche Anschlüsse und
lässt die Figuren in gestelzter Sprache aneinander vorbeiparlieren.
Der Fokus auf eine Handvoll Figuren in dem vom Krieg gezeichneten Boulogne
bleibt ziemlich klein, allerdings ist hier niemand nur Privatperson: Die
Vergangenheit, insbesondere die Traumata des Algerienkriegs, belastet die
Gegenwart bis zu einem Grad, dass eigentlich nicht mehr gesagt werden kann,
in welcher Zeit man gerade gefangen ist.
Aufgrund seiner Vorliebe, disparate Teile zueinander in Beziehung zu
setzen, wurde Resnais immer wieder ein Surrealist genannt. Das ist
keineswegs verkehrt, etwa wenn man an „Mon oncle d’Amérique“ (1980) denk…
in dem Thesen des Verhaltensforschers Henri Laborit den Ausgangspunkt für
mehrere biografische „Fallbeispiele“ darstellen, die wiederum auf
Rollenmuster von Filmstars des französischen Qualitätskinos verweisen. Was
die weißen Ratten im Käfig machen, ist auf die Paarungs- und Arbeitsmuster
der menschlichen Versuchstiere zwar nur bedingt übertragbar, entscheidend
aber bleibt der Blick auf die Figuren, der diese nicht auf einen
dramatischen Zusammenhang reduziert, sondern einem Spielleiter gehört, der
nur die äußeren Bedingungen festgelegt hat.
## Unbewusste Wiederholungsmuster
Der späte Resnais hat dieses filmische Guckkastenprinzip, im Rückgriff auf
als anachronistisch geltende Boulevardformen, auf Comicelemente oder auch
Chansons, noch weiter ausgebaut. Was den Figuren sonst innerlich ist, zum
Beispiel unbewusste Wiederholungsmuster, wird nach außen gestülpt. Mit
scheinbar unzeitgemäßen Mitteln, oft in stilisierten, bühnenhaften Settings
inszeniert er große Maskeraden wie am Ende von „I Want to Go Home“ (1989),
wo den Figuren erst die Verkleidung einen neuen Blick aufeinander
ermöglicht.
Oder er dekliniert in „Smoking/No Smoking“ (1993) durch, wie eine minimale
erzählerische Abweichung wie das Anzünden einer Zigarette eine veränderte
Wirklichkeit zur Folge haben kann. „Smoking/No Smoking“ geht auf ein
Theaterstück von Alan Ayckbourn zurück, der auch die Vorlage für Resnais’
letzten, im Februar bei der Berlinale uraufgeführten Film, „Aimer, boire et
chanter“, lieferte, eine heitere Studie über Paare jenseits der
Lebensmitte, in einem Setting, das die Künstlichkeit auf die Spitze treibt:
Die Landschaften Yorks werden von Papierbahnen evoziert, Blumenstauden aus
Pappe markieren den Garten. Resnais erhielt dafür einen Silbernen Bären –
und zwar für „einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet“.
Die „Handschrift des Desasters“, die der Filmpublizist Serge Daney in
Resnais’ Werk einmal ausgemacht hat, sie ist im verspielten Spätwerk
jedenfalls ungleich schwerer zu entziffern: In fröhliche Trostlosigkeit
verwandelt, dringt sie etwa in „Coeurs“ (2006) in unser Ohr, wo Claude
Rich, der Darsteller aus „Je t’aime, je t’aime“, zwar nie zu sehen ist,
aber als übellauniger Lustgreis aus einem Hinterzimmer schimpft.
2 Mar 2014
## AUTOREN
Dominik Kamalzadeh
## TAGS
Spielfilm
Nachruf
Volker Schlöndorff
Film
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