| # taz.de -- Nachruf Oscar Niemeyer: Vernünftig genug für Unvernunft | |
| > Oscar Niemeyer war einer, der an die Menschen in seinen Häusern und | |
| > Städten geglaubt hat. Er war Wegbereiter der Moderne. Und Kommunist. | |
| Bild: Der Meister und seine Stadt: Oscar Niemeyer in seinem Büro mit Blick auf… | |
| Ein kleiner Junge malt mit dem Finger Formen und Figuren in die Luft. | |
| Spielerisch, aber auch konzentriert und geschäftig. Was machst du denn da | |
| mit deinem Finger für komische Sachen, fragen ihn die Leute. Ich mache | |
| Zeichnungen, sagt der kleine Junge. Aus dem kleinen Jungen ist später ein | |
| berühmter Architekt geworden. | |
| Oscar Niemeyer hat diese Geschichte gern erzählt. Und manchmal hat er sie | |
| um ein Zitat von Martin Heidegger ergänzt: „Die Vernunft ist die Feindin | |
| der Einbildungskraft.“ Womit Niemeyer, der noch im hohen Alter beinahe | |
| täglich zum Formenmalen in sein Atelier gekommen ist, eben auch einen | |
| Mythos der Moderne unterminiert hat: dieses große Gerücht der Vernunft als | |
| Leitmotiv des Bauhauses und aller danach gebauten Häuser. | |
| Der am 15. Dezember 1907 als Oscar Ribeiro de Almeida de Niemeyer Soares in | |
| Rio de Janeiro geborene Architekt war im Gegenteil immer vernünftig genug, | |
| um unvernünftig zu bauen. Er war einer, der an die Menschen in seinen | |
| Häusern und Städten gedacht, der an sie geglaubt hat, wenn er etwa davon | |
| sprach, dass „Beton tiefe Gemütsbewegungen hervorrufen“ könne. Es kommt | |
| eben drauf an, was man draus macht. | |
| Oscar Niemeyer hat nicht nur in seinem radikal utopischen Großstadtmonument | |
| Brasilia das Größtmögliche aus Beton gemacht. Und vielleicht war das | |
| wirklich Kühne an dieser vor 52 Jahren eingeweihten, mitten in die | |
| zivilisatorische Wüste des brasilianischen Hinterlandes gesetzten | |
| Hauptstadt eines sozialdemokratischen, postkolonialistischen Brasiliens gar | |
| nicht das zeichenhafte Spiel der geschwungenen, gedrehten und absolut | |
| schwerelosen Baukörper. Vielleicht war das wirklich Kühne an Brasilia der | |
| letztlich naive Glaube, eine Art Anti-Germania entwerfen zu können. Eine am | |
| Reisbrett erträumte Musterstadt einer besseren Welt. | |
| ## Kühne Betonkurven | |
| Noch einmal zur Erinnerung: Niemeyer hat Brasilia zu einem Zeitpunkt | |
| entworfen, als sein Freund Le Corbusier bereits damit begonnen hatte, das | |
| soziale Leben in streng symmetrischen Wohnfabriken zu stapeln. Und als | |
| Walter Gropius Silhouetten des kapitalistischen Warenverkehrs in die | |
| Skyline von New York eingepasst hat. | |
| Der eine baute für die Pan American Airlines, der andere für die | |
| leidenschaftliche Selbstermächtigung seines Brasiliens. Bereits 1964 | |
| beendete ein Militärputsch diese Utopie. Doch auch das hat Oscar Niemeyer, | |
| diesem so entschiedenen Agnostiker, nicht den Glauben an das grundsätzlich | |
| Gute in den Menschen nehmen können. Gemeinsam sei man auf dem Weg dorthin. | |
| Und dieser Weg solle ruhig einige seiner kühnen Betonkurven nehmen. | |
| Vielleicht auch deshalb hatte der Grundriss Brasilias die Form eines | |
| Düsenflugzeugs. Eine breite, zentrale Achse mit den ikonografischen Kultur- | |
| und Verwaltungsgebäuden bildet den Rumpf. Rechts und links davon sind | |
| symmetrisch drapierte Scheibenhochhäuser wie Tragflächen angeordnet. | |
| ## Immer das modernst Mögliche | |
| Geschätzt hatte Niemeyer die Moderne, diese Überschallepoche, so auch vor | |
| allem für ihren transitorischen Charakter. Für alles Gedachte, Künftige und | |
| Utopische also, das in sie eingeschrieben war. „Ich mache immer das | |
| modernst Mögliche“, hatte er einmal über seine Architektur gesagt. Mehr | |
| noch aber ging es ihm um eine moderne Gesellschaft, um Menschen, die | |
| anders, besser und gemeinsamer leben sollen. | |
| Eine ideale Stadt, so betonte er unablässig, sei nur unter den Bedingungen | |
| einer klassenlosen Gesellschaft denkbar. Niemeyers Oeuvre, und mithin sein | |
| Leben, war ein Erdenken und Erträumen von solchen Möglichkeitsformen. Darin | |
| war es radikal modernistisch und doch romantisch zugleich. | |
| ## Latenter Freund Kubas | |
| Warum er, der bekennende Kommunist und latente Freund Kubas, sich im Laufe | |
| seiner gut 600 Bauten umfassenden Karriere, darunter als einziger in | |
| Deutschland realisierter Entwurf ein scheinbar freischwebender | |
| Apartmentriegel im Berliner Hansaviertel, denn nie um die brasilianischen | |
| Favelas gekümmert habe, wurde Oscar Niemeyer immer wieder gefragt. | |
| Aber auch darauf hatte er eine plausible Antwort gegeben: „Weil sich unsere | |
| Brüder in den Slums wohler fühlen als in geplanten Siedlungen, die | |
| keinerlei Komfort bieten und oft noch öder sind. Das alles ist schrecklich. | |
| Doch zumindest ist diesen Randzonen eine gewisse Poesie eigen, insofern die | |
| dort Ansässigen in einer ihnen vertrauten, überschaubaren Umgebung leben.“ | |
| Vermutlich ist das ein letztes Alleinstellungsmerkmal dieses ohnehin | |
| einzigartigen Modernisten: Als einziger der unter den Bedingungen des | |
| Bauhauses und der unmittelbaren Nachkriegsmoderne sozialisierten | |
| Architekten hat Oscar Niemeyer noch eine von sämtlichen Fragen des Sozialen | |
| entledigte globale Superstararchitektur kennen gelernt. Große Architektur | |
| vermochte er nicht mehr gemeinsam mit den großen, drängenden sozialen | |
| Fragen zu denken. | |
| Zehn Tage vor seinem 105. Geburtstag starb Oscar Niemeyer an einer | |
| Infektion der Atemwege in seiner Heimatstadt Rio de Janeiro. An eine Poesie | |
| des Alltags hat er, dem „ein guter Roman zeitlebens mehr bedeutet hat als | |
| eine Abhandlung zur Architektur“, bis zuletzt geglaubt. | |
| 6 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Clemens Niedenthal | |
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