| # taz.de -- Kinoempfehlung für Berlin: Die Verdichtung des Wahnsinns | |
| > Der Filmrauschpalast zeigt in einer kleinen Werkschau auch Jaques Tatis | |
| > „Playtime“. Eine der großartigsten Inszenierungen moderner Zeiten. | |
| Bild: Die Vorstadt ist eiskalt möbliert in Tatis „Playtime“ | |
| 1.200 Quadratmeter Plexiglas, 50.000 Kubikmeter Beton, Fassaden auf | |
| Schienen und sechs Monate Aufbau: damit erschuf der französische Regisseur | |
| Jacques Tati 1967 „La Défense“ – eine größenwahnsinnige und eiskalte | |
| Vorstadt der Moderne am Rande von Paris. Mit Flughafen, Messehalle und | |
| Bürotürmen: „Tativille“, die Kulisse für seinen Film „Playtime“. | |
| In den ersten Szenen sieht man eine weibliche Reisegruppe, die Frauen sind | |
| hoch erfreut, weil alles so aussieht wie zu Hause: „Wie auf dem Ku’damm, | |
| nicht wahr?“, flötet eine von ihnen. Es ist ein städtebauliches Nirgendwo | |
| und Überall, in dem Autos und Menschen wirken wie Relikte alter Zeiten. | |
| In den Gebäuden rauscht es permanent, die Haustechnik summt, ein | |
| Hausmeister, der noch im 19. Jahrhundert geboren sein könnte, drückt | |
| Knöpfe, es ertönt ein Pfeifen. In diesen Klangteppich eingewebt sind dem | |
| Gebrabbel der Passant*innen kaum einzelne Worte zu entnehmen. Sagte die | |
| Frau „Eiffelturm“? Eben spiegelte er sich in einer Glastür zur Messehalle, | |
| wo sich die Frauen Mülleimer im Stile eines griechischen Säulenstumpfes | |
| vorführen lassen. | |
| Auch [1][Monsieur Hulot] kreuzt auf, wird an einem Stand verwechselt und | |
| beschimpft, bevor man ihm Geräusch-frei eine der innovativen „Golden | |
| Silence“-Türen, die hier angepriesen werden, vor der Nase zuknallt. Was | |
| Monsieur Hulot, eine Figur, die der französische Filmemacher Jacques Tati | |
| für eine Reihe von Filmen entwickelte, die der [2][Filmrauschpalast] an den | |
| Feiertagen zeigt, in gewohnt freundlicher Art und mit erstaunter Mine | |
| erduldet. | |
| Doch während Hulot in „Mon Oncle“ und „Die Ferien des Monsieur Hulot“ … | |
| Haupt-Protagonist ist, berührt er in „Playtime“ – Tatis großartigstem F… | |
| – nur noch zaghaft die opulenten Wimmelbilder (Tati drehte auf 70 | |
| Millimeter), die oft mit mehreren parallelen Handlungen gefüllt sind. | |
| Zahlreiche Doppelgänger Hulots tauchen auf und verschwinden wieder im | |
| Getümmel der Straßen. | |
| „Playtime“ ist eine Kritik an den modernen Zeiten. Sie wurde vom Publikum | |
| nicht verstanden (der unfassbar teure Film floppte und feierte erst 20 | |
| Jahre nach Tatis Tod 2002 ein furioses Comeback in den französischen | |
| Kinos). Diese Kritik ist unglaublich komisch in ihrer Detailversessenheit | |
| für die Architektur, in der sich Tati, übrigens ein gelernter | |
| Bilderrahmenbauer, als Kenner des Metiers erweist. | |
| Eine Rolltreppenfahrt hinab in den offenen Grundriss eines Bürogebäudes | |
| nimmt nicht nur heutige 3D-Modelle für Architekturpräsentationen vorweg, | |
| sondern auch den Grundriss für eine fluide Arbeitswelt, für die sich die | |
| Gesellschaft damals gerade einzurichten begann. | |
| Alle Menschen scheinen desorientiert, verwirrt und depersonalisiert. Man | |
| kennt sich oder doch nicht, man ist in Paris, aber das, was man über Paris | |
| weiß, spiegelt sich nur in den Fassaden, findet sich auf Plakaten, wird als | |
| Ausflug beworben. Auf großen stilisierten Landkarten hingegen verbinden | |
| Linien die wichtigsten Destinationen der Welt. | |
| Am Abend sitzen die Menschen in ihren Wohnzimmern wie Auslagen in | |
| Schaufenstern und auf Designer-Sesseln, die mit einem Grunzen beim | |
| Niedersetzen einsacken und mit einem „Poff“ wieder aufploppen. Man glotzt | |
| hinaus und wird von den vorbei flanierenden Menschen angeglotzt. | |
| Tati beschreibt nicht weniger als die Zerstörung der europäischen Stadt | |
| durch ihre Touristifizierung und Degradierung zur Ware. Und damit die | |
| Anfänge dessen, was wir gerade zu Ende bringen. Städte wie Lissabon oder | |
| London sind längst zu Attrappen verkommen, in deren Zentren sich nur noch | |
| eine reiche mobile Klasse eine Wohnung oder Restaurantbesuche leisten kann. | |
| Dieser Tage entlädt sich gerade auch in Paris die Wut darüber, was dieser | |
| Gesellschaftsentwurf an sozialer Spaltung angerichtet hat. Die Ränder | |
| dieser Städte gleichen denen aller modernen Metropolen mit ihren | |
| wiedererkennbaren Infrastrukturen. | |
| Eine grandiose Verdichtung des Wahnsinns ist die Szene der desaströse | |
| Eröffnung eines Restaurants, während der noch die letzten Installationen in | |
| der Küche angespackst werden und den Kellnern die Fake-Granit-Platten an | |
| den Füßen kleben bleiben. | |
| Derweil ist im eleganten Speisesaal niemand mit irgend etwas zufrieden. | |
| Alles Sprechen der Gäste, Kellner und des Restaurantmanagers wird zu einer | |
| Wolke von Knacklauten, aus der wiederholt das Wort „Architekt“ spröde | |
| hinauspurzelt, wie die Bauteile aus ihren Verankerungen. Die Gäste tanzen | |
| und trinken, der Abend gerät zu einer kleinen Revolte, ein Hauch von 14. | |
| Juli liegt in der Luft, die Elektrik beginnt zu brennen, die | |
| Deckenverkleidung löst sich. Selbst Hulot macht sich locker. | |
| Im Morgengrauen kräht ein Hahn. „Zu dieser Stunde ist Paris am schönsten“ | |
| sagt ein Bauarbeiter und schaut einer schönen Frau hinterher. Sinnlos | |
| reihen sich Transporter, Feuerwehrautos, Bootsanhänger und Betonmischer im | |
| Kreisel ein. Auf den Bussen sind Ziele verzeichnet wie Hôtel de Ville oder | |
| Champs-Élysées. Oder eben der Flughafen. | |
| Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg | |
| immer Donnerstags in der Printausgabe der taz | |
| 19 Dec 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!1080534/ | |
| [2] http://www.filmrausch.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Antonia Herrscher | |
| ## TAGS | |
| Werkschau | |
| Französischer Film | |
| Architektur | |
| Städtebau | |
| Tourismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |