Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Holocaust-Forschung in Polen: Gericht kippt Urteil
> Ein Warschauer Berufungsericht spricht zwei polnische
> Historiker*innen von dem Vorwurf der Verleumdung frei. Die reagieren
> mit Genugtuung.
Bild: Die Zerstörung des Warschauer Ghettos im Jahr 1943
Warschau taz | Barbara Engelking und Jan Grabowski, zwei renommierte
Holocaustforscher*innen in Polen, können aufatmen. Ein
Berufungsgericht in Warschau hat sie am Montag vom Vorwurf der Verleumdung
freigesprochen. „Ein Gerichtssaal ist nicht der richtige Ort für eine
historische Debatte“, begründete die Richterin die Aufhebung [1][des
Urteils], das in der ersten Instanz ergangen war.
„Wir nehmen das Urteil mit großer Freude und Genugtuung an“, schrieben
Engelking und Grabowski in einer ersten gemeinsamen Erklärung auf Facebook.
„Und dies gilt umso mehr, als das Ergebnis unseres Prozesses von einer
grundlegenden Bedeutung für die gesamte polnische Forschungsgemeinschaft
ist, insbesondere aber auch für Historiker*innen, die sich mit der
Erforschung des Holocaust beschäftigen.“
Mitte Juni 2019 hatte [2][Filomena Leszczyńska, die Nichte des ehemaligen
Dorfschulzen Edward Malinowski] im ostpolnischen Malinowo, eine
Verleumdungsklage bei einem Warschauer Bezirksgericht eingereicht. Sie
beanstandete eine kurze Passage und zwei Fußnoten in dem von Engelking und
Grabowski herausgegebenen und über 1.600 Seiten starken Werk „Dalej jest
noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski“ (Und immer noch
ist Nacht. Die Schicksale von Juden in ausgewählten Landkreisen des
besetzten Polens).
Die Textstelle, so Leszczyńska, beleidige ihren Nationalstolz als Polin,
die Ehre, einem Volk von Judenrettern anzugehören und insbesondere die
Ehre, Nichte des Kriegshelden und Judenretters Edward Malinowskis zu sein.
Finanziell und mit rechtlichem Beistand unterstützt wurde die
Dorfbewohnerin aus Ostpolen von der rechtsnationalen Stiftung „Reduta –
Festung des guten Namens“ in Warschau.
## Hilfe und Verrat
Das Buch „Dalej jest noc“ schildert am Beispiel von neun Landkreisen und
Zehntausenden Einzelschicksalen, welche Überlebenschancen Juden und
Jüdinnen hatten, denen es gelungen war, aus Ghettos und KZs im nazideutsch
besetzten Polen zu fliehen.
Manche katholisch-polnische Bauernfamilie bot Schutz und Hilfe an, doch
viele Landsleute der polnischen Juden lehnten jegliche Hilfe aus Angst vor
den deutschen Besatzern und polnischen „Schmalzowniks“ ab, die Juden (und
ihre Beschützer) nur gegen Schutzgeld nicht an die Gestapo oder SS
verrieten, dies aber doch taten, sobald kein Geld mehr floss.
Engelking hatte die Situation von Juden im Landkreis Bielski in der
Wojwodschaft Podlachien erforscht. Dazu analysierte sie historischen
Quellen sowie Zeitzeugenberichte, amtliche Bekanntmachungen, Berichte des
polnischen Untergrunds, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1939
bis 1945, sowie Nachkriegs-Gerichtsverfahren in Polen und
Videoaufzeichnungen jüdischer Überlebender in den USA.
Der Klägerin Leszczyńska zufolge hatte Engelking einen Teil der Biografie
von Malinowski „erfunden“, wie es in der Klageschrift heißt, und zwar „f…
den Zweck der Buch-Publikation ‚Und immer noch ist Nacht‘.“ Ihr Vorwurf
lautete: Onkel Edward sei ein Judenretter gewesen, nicht aber ein
Juden-Verräter und Nazi-Kollaborateur.
## Sicheres Todesurteil
Den Forschungen Engelkings zufolge war der Dorfschulze Malinowski aber
beides: mal rettete er Juden, mal verriet er sie an die Deutschen, was ihr
sicheres Todesurteil bedeutete. Während das Gericht in erster Instanz noch
der Argumentation der Klägerin folgte, gab das Berufungsgericht den
Historiker*innen recht.
Sie hatten auf Wissenschaftsfreiheit und für eine offene Debatte plädiert.
In der Urteilsbegründung hieß es: „In einer Demokratie ist die Suche nach
der historischen Wahrheit ein wünschenswertes Gut.“
17 Aug 2021
## LINKS
[1] /Wahrheitsfindung-in-Polen/!5751425
[2] /Polen-und-der-Holocaust/!5746521
## AUTOREN
Gabriele Lesser
## TAGS
Polen
Justiz
Holocaust
Polen
Schwerpunkt Flucht
Holocaust
Holocaust
Polen
Polen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Rechtsstreit zwischen Polen und der EU: Drohung aus Warschau
Das polnische Verfassungsgericht spielt mit der Verschiebung ihres Urteils
auf Zeit. Premier Morawecki will den EU-Gerichtshof bloßstellen.
Geflüchtete in Polen: Morawieckis Augenwischerei
Der Ausnahmezustand an der polnischen Ostgrenze zu Belarus ist grundlos.
Polens Ministerpräsident spielt sich damit zum Retter auf.
Wahrheitsfindung in Polen: Vergangenheit glätten
Ein Urteil in Warschau gegen zwei renommierte Holocaustforscher
gefährdet die weitere Geschichtsaufarbeitung in Polen.
Polen und der Holocaust: Das Recht auf Nationalstolz
Die Nichte eines Dorfschulzen verklagt zwei renommierte Holocaust-Forscher.
Sie hätten den Ruf ihres Onkels und den Polens beschädigt.
Geschichtspolitik in Polen: Wegen Zivilcourage gefeuert
Der Direktor des jüdischen Museums POLIN in Warschau verliert seinen Job.
Er hat den aktuellen Antisemitismus in Polen kritisiert.
Erinnerungskultur in Polen: Die Legende der unbefleckten Nation
Zum 70. Jahrestag des Pogroms von Kielce verurteilt Staatspräsident Duda
jedweden Antisemitismus. Doch die polnischen Täter erwähnt er nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.