# taz.de -- György Dalos über Ungarns Zivilgesellschaft: "Es fehlt die angstf… | |
> Die ungarische Regierung geht massiv gegen Journalisten und | |
> Kulturschaffende vor. Die Kritik vonseiten der EU ist wichtig, sagt der | |
> Schriftsteller György Dalos. | |
Bild: Protest in Budapest gegen das neue Mediengesetz. | |
taz: Herr Dalos, seit Wochen führen regierungstreue Medien eine besonders | |
schmutzige Kampagne gegen liberale Intellektuelle, die Ungarn im Ausland | |
angeblich in den Dreck ziehen. Auch Ihr Name fällt dabei. | |
György Dalos: Ja, es gibt wohl politische Kräfte, die nicht wollen, dass | |
ich etwas sage. Aber das ist nicht das ganze Ungarn. | |
Fürchten Ungarns starker Mann, Viktor Orbán, und seine Regierung Stimmen | |
von kritischen Intellektuellen so sehr, dass es solcher Hetzkampagnen | |
bedarf? | |
Ich glaube, sie fürchten sich weniger vor uns kritischen Intellektuellen. | |
Sie haben eher Angst vor den Folgen ihrer abenteuerlichen ökonomischen | |
Politik. Sie haben zum Beispiel die privaten Rentenkassen verstaatlicht und | |
sich das Geld einfach in die Taschen gesteckt. Wie reagieren die Leute wohl | |
darauf, wenn sie die schönen patriotischen Worte irgendwann satthaben und | |
nach dem Inhalt ihrer Geldbörse schauen? Dann nützt Orbán auch seine | |
Zweidrittelmehrheit nichts mehr. | |
Bei seinem Auftritt vor dem EU-Parlament wertete Orbán die Kritik an seinem | |
Mediengesetz als Beleidigung des ungarischen Volks. | |
Orbáns Auftritt richtete sich klar an die Ungarn. Seine Botschaft: "Ich | |
schütze die Heimat vor dem bösen Ausland, vor der EU." Außerdem kann dieser | |
Mensch einfach kein Maß halten und besitzt keine Disziplin. | |
Überrascht Sie die Vehemenz, mit der Ungarn von europäischer Seite jetzt | |
plötzlich kritisiert wird? | |
Das ist eine angenehme Überraschung. Die Kritik aus Brüssel darf allerdings | |
nicht nur kampagnenartig und oberflächlich bleiben. Denn es geht nicht | |
darum, dass irgendein Land irgendwelche Gesetze nicht einhält, sondern es | |
geht um das Selbstverständnis der Europäischen Union. Was ein Lukaschenko | |
in Weißrussland praktiziert, darf in einem EU-Land nicht erlaubt sein. | |
Wie wichtig ist diese Kritik für die ungarische Opposition? | |
Die Kritik ist wichtig und aufmunternd. Andrerseits, und das ist auch meine | |
Erfahrung als Oppositioneller der 1970er und 1980er Jahre, kann man nicht | |
alles vom Westen erwarten. Wir müssen unsere Menschenrechte, unsere | |
Demokratie selbst und auch ohne Hoffnung auf Hilfe aus dem Ausland | |
verteidigen. Es gab vor 1989 in Ungarn Oppositionelle, die geglaubt haben, | |
der Westen kann durch ökonomischen Druck Menschenrechte erkämpfen. Ich fand | |
das immer ebenso illusorisch wie falsch. | |
Hat die Zivilgesellschaft, haben kritische Medien und Intellektuelle sich | |
zu sehr auf das Ausland verlassen und in ihrer Rolle als Opposition | |
versagt? | |
Das ist ein schwerer und nicht haltbarer Vorwurf. Journalisten und | |
Intellektuelle stehen derzeit unter großem ökonomischen Druck. Die | |
Regierung kann die kritischen Medien damit erpressen, dass sie keine | |
Werbeaufträge mehr vergibt. Auch Intellektuelle werden auf diese Weise | |
erpresst, derzeit werden zum Beispiel eine Reihe von Philosophen mit | |
hanebüchenen Ermittlungsverfahren vom Finanzamt überzogen. Das ist in einem | |
kleinen Land wie Ungarn, wo alles, auch die Philosophie, nur vom Staat | |
leben kann, existenzbedrohend. | |
Letzte Woche demonstrierten vor dem Parlament in Budapest immerhin | |
zehntausend Menschen gegen das Mediengesetz. Vorher waren zu ähnlichen | |
Veranstaltungen höchstens mal tausendfünfhundert Menschen gekommen. Eine | |
große oppositionelle Tageszeitung sprach daraufhin begeistert von der | |
"neuen Opposition auf der Straße". | |
Ja, das hätte vorher niemand geglaubt, dass in Ungarn noch mal zehntausend | |
Menschen zu einer regierungskritischen Demonstration zusammenkommen. Eine | |
neue Opposition sehe ich darin noch nicht, aber vielleicht kann aus solchen | |
Initiativen eine Bürgerbewegung entstehen, und vielleicht schwindet auch | |
die atemberaubende Popularität von Orbán und seiner Regierung ein wenig. | |
Das klingt sehr optimistisch, Optimismus ist nicht Mode in Ungarn. Leider | |
gibt es noch immer die alten Phantomängste und die Beflissenheit vor jeder | |
Autorität. Das ist ein gesamtosteuropäisches Phänomen und leider auch eine | |
Generationsfrage. Die angstlose Generation ist noch nicht geboren. | |
Wie geht es weiter mit Ungarn? Wird Viktor Orbán eine Diktatur errichten? | |
Nein, das glaube ich nicht. Ungarn wird einfach eine sehr unangenehme, | |
schlechte Demokratie werden, die niemandem gefällt. Es gibt ja solche | |
Systeme: Alle äußeren Merkmale einer Demokratie sind vorhanden, es | |
existieren bloß keine Demokraten mehr. | |
21 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Keno Verseck | |
## TAGS | |
Imre Kertész | |
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