# taz.de -- Filmfestival Diagonale in Graz: Schweigen und Fuchteln | |
> Zwischen Geschichtsvergessenheit und Gegenwartsdiagnostik: Provokationen | |
> und Tendenzen des österreichischen Kinos auf der Diagonale in Graz. | |
Bild: Die Kamera als Hassobjekt. Filmstill „Kern“. | |
Elfriede Jelineks Theaterstück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ machte das | |
burgenländische Dorf Rechnitz über Österreich hinaus bekannt. Der im | |
Hügelland gelegene Grenzort wurde am 24. März 1945 zum Schauplatz eines | |
grausamen Verbrechens, bei dem 180 jüdische Zwangsarbeiter von den Gästen | |
eines Schlossfestes massakriert und anschließend verscharrt wurden. Das | |
Grab wurde bis zum heutigen Tag nicht gefunden. | |
Vergangenen Sonntag wurde in Rechnitz zumindest eine Gedenkstätte eröffnet: | |
Das Kreuzstadlmuseum – benannt nach der Ruine, in deren Nähe sich das | |
Massaker ereignet hat – erinnert mit Schautafeln an die Vorgänge von 1945 | |
sowie an die Opfer. Am selben Tag ging auch die Grazer Diagonale zu Ende, | |
das Festival des österreichischen Films, auf dem Margareta Heinrichs und | |
Eduard Ernes Dokumentarfilm „Totschweigen“ aus dem Jahr 1994 zu sehen war. | |
Es handelt sich um einen heute noch erschreckend aktuellen Komplementärfilm | |
zu Jelineks Stück. Schon damals begleiteten die Filmemacher Anstrengungen, | |
das Massengrab in Rechnitz ausfindig zu machen. Trotz des Einsatzes | |
neuester Technologien blieben sie erfolglos: Was bei Heinrichs und Ernes | |
Aktivitäten dennoch zum Vorschein kommt, ist die hartnäckige Weigerung | |
vieler Dorfbewohner, sich mit Erinnerungen aufzuhalten. | |
## Kollektiv wegschauen | |
Mit den Ermordeten wurde auch die Geschichte vergraben. Der Film bleibt | |
jedoch genauso hartnäckig in seinem Begehren, fragmentarische Aussagen und | |
Ansichten zusammenzutragen, dass daraus dennoch ein Bild der Vergangenheit | |
entsteht, das dieser Verdrängungslogik widerstrebt. | |
Obwohl es auf dem Feld des politischen (Dokumentar-)Films auf der Diagonale | |
kaum etwas Vergleichbares zu sehen gab, haben das kollektive Schweigen und | |
Wegschauen, ein jahrzehntelang verfestigter Mangel an Auseinandersetzung im | |
zeitgenössischen österreichischen Kino Spuren hinterlassen. Ein penibler, | |
engmaschiger, mitunter sehr unterkühlter Milieurealismus bestimmt jene | |
Spielfilme, die auf internationalen Festivals reüssieren. | |
## Ästhetischer Rigorismus | |
Er kennzeichnet die beiden zentralen Arbeiten des Jahres 2011, Markus | |
Schleinzers Pädophilie-Drama „Michael“ und Karl Markovics’ Regiedebüt | |
„Atmen“, und auch noch aktuellere Arbeiten wie Ruth Maders Dokumentarfilm | |
„What Is Love“, in dem es um Beziehungskonstellationen und Lebensentwürfe | |
geht, in denen sich Gesellschaft momenthaft verdichtet. | |
Der ästhetische Rigorismus, der in diesen Filmen unterschiedliche | |
Wärmegrade annimmt, hat viel mit den beiden wichtigsten Filmautoren der | |
letzten 20 Jahre, Michael Haneke und Ulrich Seidl, zu tun. Nicht zuletzt | |
aufgrund seines erzählerischen Determinismus verfügt dieser Stil über | |
energische Gegner: Von „Kadrage als Gefängnis“ sprach in Graz etwa ein | |
renommierter internationaler Festivalgast. | |
## Pädophilie als Zugpferd | |
Doch reale Verbrechen wie der Fall Natascha Kampusch (gegenwärtig auch als | |
Film in Produktion der deutschen Constantin-Film) sowie jener der Familie | |
Fritzl gedeihen eben auch auf einem gesellschaftlichen Morast, der | |
Filmautoren immer wieder zum Anlass wird, von starren Verhältnissen zu | |
erzählen. Das Pädophilie- (oder besser: Pädosexualitäts-)Thema garantiert | |
in einer auf zugkräftige Themen ausgerichteten Festivalwelt zudem | |
Aufmerksamkeit. | |
Die Provokation von „Michael“ liegt gerade in seinem kühl-protokollierenden | |
Blick auf die Welt eines Täters, die Suspense-Momente genauso kennt wie | |
groteske Komik. Sebastian Meise macht daraus in „Stillleben“ eine | |
Familienaufstellung: Als die sexuellen Neigungen eines Vaters gegenüber | |
seiner Tochter ans Licht treten, geraten Rollenmuster wie etwa jenes | |
zwischen Bruder und Schwester in Bewegung. Meises Film ist zwar offener als | |
„Michael“, bleibt in seiner Analyse familiärer Muster dann aber zu | |
unverbindlich und verhalten. | |
## Grenzen des Darstellbaren | |
Brisanter fällt der Dokumentarfilm „Outing“ desselben Regisseurs (gemeinsam | |
mit Thomas Reider) aus: Da gewährt ein pädosexueller junger Mann namens | |
Sven mit verblüffender Offenheit Einblick in sein getriebenes Innenleben. | |
Das Outing, das Sprechen über den Kampf mit dieser geächteten Form | |
fehlgeleiteten Begehrens, verfolgt hier den Zweck von Selbstkontrolle: Sven | |
will kein Täter werden. Die Spannung des Films entsteht, weil die Beziehung | |
zum Protagonisten und damit auch die Grenzen des Darstellbaren ständig | |
nachjustiert werden müssen. | |
Dass es zum längst zur Marke gewordenen Miserabilismus des österreichischen | |
Kinos auch immer wieder interessante Alternativen gab, demonstrierte auf | |
der Diagonale Michael Syneks „Die toten Fische“, eine expressionistische | |
Science-Fiction-Parabel aus dem Jahr 1989, die sich eher an die Bildwelten | |
von Andrej Tarkowski, Franz Kafka oder eines frühen Lars von Triers hält. | |
Der mit viel persönlichem Einsatz (und fast ohne Förderungen) realisierte | |
Schwarz-Weiß-Film nach einem Buch von Boris Vian verblüfft auch mehr als 20 | |
Jahre später durch die hohe Kunstfertigkeit, mit der er eine von bizarren | |
Ungereimtheiten bestimmte Welt entwirft. | |
Der Film folgt einem schäbig gekleideten Mann (Erwin Leder), der in | |
blubbernden Teichen Briefmarken fischt, diese an einen unwirschen Herrn | |
verkauft und ständig auf Schikanen stößt. Synek erschafft eine ihre absurde | |
Seite stolz vor sich hertragende Welt der autoritären Willkür, deren | |
Gesetzmäßigkeiten nicht einmal die Mächtigen ganz durchschauen. | |
## Die Kamera wird zum Hassobjekt | |
„Die toten Fische“ ist nach seiner Premiere in Cannes aufgrund finanzieller | |
Engpässe des Regisseurs völlig von der Bildfläche verschwunden und benötigt | |
dringend ein neues Negativ, um der Nachwelt erhalten zu bleiben. Ein | |
anderer Solitär des österreichischen Kinos ist der Schauspieler und | |
Regisseur Peter Kern, der in Graz nicht nur mit einem eigenen Film, „Gaube, | |
Liebe, Tod“, sondern auch als Gegenstand eines Porträtfilms von Veronika | |
Franz und Severin Fiala zu erleben war. | |
Kern zeigt sich in „Kern“ schon in der ersten Szene in seiner | |
Lieblingsrolle als notorischer Nörgler und Choleriker: „Ein Fuchtelfilm“, | |
sei das, von Filmemachern, die keine Ahnung haben von dem, was sie tun. Die | |
Grenzen zwischen den Machern und dem Protagonisten sind allerdings nie klar | |
gezogen. So sehr die Kamera zum Hassobjekt wird, so notwendig wird sie für | |
Kern zur (viel zu) verführerischen Bühne, auf der er singt, schreit, weint, | |
tanzt und von seinem Leben erzählt. | |
Das ist nicht nur sehr unterhaltsam, es bildet Kern auch in all seiner | |
Maßlosigkeit als Schmerzensmann ab, der im Mittelpunkt eines radikal | |
persönlichen Kunstprojekts steht. | |
## Dokumentarisch ist kostengünstig | |
Der Dokumentarfilm ist im gegenwärtigen österreichischen Kino nicht nur | |
besonders stark, auch die Anzahl der Arbeiten nimmt jährlich zu. Das liegt | |
paradoxerweise auch an der Stagnation staatlicher Fördermittel, denn | |
dokumentarisch zu arbeiten ist viel kostengünstiger. Etliche Filmemacher | |
einer jüngeren Generation zeigen sich formal außerdem wendig und probieren | |
unterschiedliche Formate und Genres aus. | |
Dariusz Kowalski war bisher für experimentelle Arbeiten bekannt, in | |
„Richtung Nowa Huta“ bewegt er sich nun in die polnische Stadt seiner | |
Jugend zurück, die ob ihrer Stahlproduktionsstätten auch für die | |
Solidarnosc-Bewegung von 1989 Bedeutung erlangt hat. Die besondere Qualität | |
dieses Films liegt in seiner konzeptuellen Idee, Vergangenheit nur in davon | |
durchzogenen Gegenwarten zu zeigen. | |
Auf die persönlichen Anknüpfungspunkte verzichtet Kowalski beinahe | |
ausschließlich. Von Touristen-Guides, die an Schauplätze der Revolution | |
führen, über in Fotografien konkretisierte Erinnerungen der Vätergeneration | |
bis zu ganz im nebulösen Heute versunkenen Teenagern erzählt dieser Film | |
auf eine nüchtern-beobachtende Weise. Die ideologische Ablöse – statt der | |
Kommunismus stiftet mittlerweile der Katholizismus die Ikonen – gerät dabei | |
ganz selbstverständlich und trotzdem wie nebenbei ins Bild. Hier erscheinen | |
die Zeiten endlich im Fluss. | |
28 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Dominik Kamalzadeh | |
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