Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Film über Heino Jaeger: Fundamentaldissident von St. Pauli
> Heino Jaeger war Maler, Kabarettist, Bürgerschreck – und für niemanden zu
> fassen. Der Dokumentarist Gerd Kroske sammelt die biografischen Splitter
> ein.
Bild: Heino Jaeger: Fragmente voll provokativer Symbolik.
An den Telefonseelsorger Dr. Jaeger konnte sich wenden, wer nicht mehr
weiter wusste. So schildert eine Frau Probleme mit ihrem kürzlich
pensionierten Ehemann, der früher bei der Passabfertigung tätig war und den
Wegfall seiner Dienstroutine seitdem durch ein häusliches Kontrollregime
überkompensiert.
Im Flur des unverbesserlichen Grenzschützers steht nun ein
selbstgezimmerter Abfertigungsschalter. Will die Gattin ins Wohnzimmer,
muss sie jedes Mal den Pass vorzeigen. Gäste, die zu Besuch erscheinen,
erhalten im günstigsten Fall zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigungen in
Form von Laufzetteln. Dr. Jaeger zeigt erst Verständnis für die
Beschwerdeführerin, weist dann aber mit Ordnungshüterstrenge auf die
unbedingte Gültigkeit des neue Passgesetzes hin: „Ihr Mann ist sogar
verpflichtet, die Pässe zu stempeln.“
Dem in den letzten Jahren mehrmals – durch Buchpublikationen und
Theaterabende – wiederentdeckten Kabarettisten hinter der
70er-Jahre-Hörfunksendung „Fragen Sie Dr. Jaeger“ hat Gerd Kroske den
dritten Teil seiner Hamburger Trilogie gewidmet. Nach Filmen über die
St.-Pauli-Lokallegenden Norbert Grupe alias „Der Prinz von Homburg“ („Der
Boxprinz“, 2000) und Wolfgang Köhler, den sächsischen Bordellbesitzer, den
Hubert Fichte als „Wolli Indienfahrer“ verewigte („Wollis Paradies“, 20…
rundet Kroske seine historische Kiezforschung nun mit einem Künstlerporträt
ab.
## Unvermittelter Hitlergruß
Nicht nur in seiner Paraderolle als „Beichtvater der Nation“ war Heino
Jaeger, der zugleich auch die Anrufer spielte, ein anarchisch
ausschlagender Detektor bundesrepublikanischer Alltagspathologien. Auch
seine privaten Performances im Freundeskreis galten einer deutschen
Nachkriegswirklichkeit, deren enorme Verdrängungsleistungen durch gezielte
Provokationen schnell sichtbar gemacht werden konnten – etwa indem Jaeger
bei einem Volksfest in der bayerischen Provinz als Spaßdirigent eines
Blasorchesters unvermittelt den Hitlergruß entbot, was im Bierzelt
keinerlei Irritationen auslöste. War da was?
Es sind Geschichten wie diese, die Jaegers langjährige Freunde voller
Bewunderung und Empathie vor Kroskes aufmerksamer Kamera nacherzählen. Aus
den Anekdoten entsteht eine biografische Rekonstruktion, die im Kern
fragmentarisch und auf Jaegers multimediale Kunstpraxis bezogen bleibt.
## Hinter der Bierflasche verstecken
Jaegers zeichnerisch-malerisches Werk hinter den Kabarett- und
Hörfunkarbeiten hervortreten zu lassen, ist eine Fluchtlinie, die Kroskes
Film bis zu späten Videoaufnahmen einer Vernissage verfolgt, bei der sich
Jaeger wie gepeinigt durch die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit hinter
einer Bierflasche zu verbergen sucht, die als antibürgerliches Proletsignal
im Galerieraum leuchtet.
Wie unwohl sich dieser Mann in der Rolle als öffentlich ausgestellte
Künstlerfigur gefühlt haben muss, ist hier fast schmerzhaft
nachvollziehbar. Aber auch das verzweifelte Trinken eines schweren
Alkoholikers zeigt sich überdeutlich.
Auf manches können sich die, die ihm am nächsten waren, noch einen
lebensgeschichtlichen Reim machen. Die traumatische Kindheitserfahrung
während der Dresdner Bombennacht im Februar 1945 findet ihr Echo dann in
einem entgleisenden LSD-Trip bei Wolli Köhler. Nach dessen Darstellung
versuchte Jaeger damals drogenverwirrt ein nichtexistentes Feuer zu
löschen. Man rief einen Türsteherschrank und setzte Jaeger heftig unter
Valium.
## Nichtexistentes Feuer
Jaegers subversives Spiel mit Nazi-Symbolen, seine Hitler-Parodien an der
Seite von Hanns Dieter Hüsch, werden einerseits als Reaktion auf einen
kleinbürgerlichen Nazi-Vater deutbar, erscheinen aber zugleich als Fanal
eines Selbstverständnisses, das an Übertretungen aller Art ausgerichtet war
und auch nicht im ideologischen Konsens der 68er-Bewegung aufgehen wollte.
Kommunentauglich wäre Jaeger wohl ohnehin nicht gewesen.
Bei vielen anderen Episoden wird deutlich, dass Jaeger auch jenseits
gefürchteter Bürgerschreckauftritte für sein unmittelbares Umfeld
grundlegend unkalkulierbar blieb, jemand, der auftauchte und wieder
verschwand, der sich letztlich immer zu entziehen wusste. Seine
Fundamentaldissidenz wird in Kroskes Film glücklicherweise nicht als
Produkt seiner später diagnostizierten psychischen Erkrankung gewertet.
Jaegers traurige letzte Lebensdekade in einer psychiatrischen Einrichtung
in Bad Oldesloe – er starb 1997 im Alter von 59 Jahren an den Folgen eines
Schlaganfalls – soll nicht der Fixpunkt sein, von dem aus der Blick zurück
seinen finalen biografischen Sinn erhält. Auch das ist die Leistung eines
Films, der dem Eigensinn seiner Titelfigur zwar viel Raum gibt, sich aber
nicht darauf beschränkt, das idiosynkratische Moment zu vereinseitigen.
Kroske behandelt Jaegers Leben wie eine besondere, hochindividuelle Sonde,
über die sich dennoch allgemeine gesellschaftliche Zustände perspektivieren
und miterzählen lassen.
## Gelebte St.-Pauli-Solidarität
Dem öffentlich-rechtlichen Radiomainstream ist Jaeger schon in den frühen
80er Jahren kaum mehr vermittelbar. Ehemalige Mitstreiter wie Hüsch
scheinen nicht mehr viel für ihn ausrichten zu können. In einem bereits
1988 geführten Gespräch mit Joschka Pintschovius hat Hüsch den jeweiligen
Anpassungsgrad für die unterschiedlichen Karriereverläufe verantwortlich
gemacht und sich selbst indirekt des Konformismus geziehen: „Wir anderen
haben Glück gehabt. Wir haben nämlich den Rahmen nicht gesprengt. Sei es
aus Klugheit oder aus Unvermögen.“
Jaeger lebt in den Jahren nach der kurzen Rundfunkkarriere extrem prekär,
verdient sich einen minimalen Lebensunterhalt, indem er Zeichnungen an
befreundete Prostituierte verkauft, die ihn sexuell nicht interessieren.
Weil sie ihn mögen, nehmen sie ihm regelmäßig Skizzen ab, ohne Verwendung
dafür zu haben. Gelebte St.-Pauli-Solidarität, so viel Nostalgie darf schon
sein.
Sehr schön ist Kroskes Film auch als beiläufige medienarchäologische
Erkundung. Der große Saal des saarländischen Rundfunks hat hier einen
sentimentalen Museumsauftritt und viele altertümliche
Reproduktionstechnologien finden den Weg ins Bild. Wegstreiter wie
Pintschovius kramen unförmige Abspielgeräte und ramponierte Tonbänder
hervor, um Kroskes Film mit Jaeger-Raritäten zu füllen.
## Unförmige Abspielgeräte
Verbindungen der Hamburger Trilogie zu Kroskes zweitem Filmzyklus, den
„Kehraus“-Filmen, finden sich am ehesten im unprätentiösen dokumentarisch…
Modus der Annäherung an einen nicht ohne Weiteres aufschließbaren
Milieukontext. Seit 1989, in bislang drei Filmen, folgt Kroske in einer
parallel zu anderen Projekten betriebenen Langzeitbeobachtung den
Lebensläufen von Leipziger Straßenkehrern, die im ersten Film unter anderem
noch mit dem Müll zu tun haben, den eine Helmut-Kohl-Wahlkampfveranstaltung
kurz nach der Wende mit sich bringt.
Im jüngsten Film „Kehraus, wieder“ (2006) sind zwei von ihnen bereits
verstorben, in Vereinsamung und Verarmung, nach einem Leben an der
Peripherie sozialstaatlicher Fürsorge. Dort, wo es mittlerweile bereits
erwachsene Kinder gibt, kämpfen sie gegen die deterministische Drohung an,
die Lebensbahnen der Eltern als Rahmensetzung für die eigene Biografie
akzeptieren zu müssen.
In der Leipziger Trilogie ist die vergleichsweise mondäne Halbwelt der
Hamburger Lebenskünstler weit weg. Kroske macht dennoch keinen Unterschied
in der Herangehensweise, der Art, wie er Fragen stellt, Schweigen aushält,
wie die Montage immer rechtzeitig abbricht und neu ansetzt, um nicht zu
runde Geschichten aus schief laufendem Leben zu machen. Heino Jaegers
Stehgreifminiaturen können als fernes Modell für diese Art des Einsammelns
biografischer Splitter gelten.
## „Heino Jaeger – look before you kuck“, Regie: Gerd Kroske.
Dokumentarfilm, Deutschland 2012, 120 Min.
1 Nov 2012
## AUTOREN
Simon Rothöhler
## TAGS
St. Pauli
Malerei
Dokumentarfilm
Popgeschichte
## ARTIKEL ZUM THEMA
Erinnerungen an Künstler Heino Jaeger: Das merkwürdige Genie
25 Jahre nach seinem Tod erinnern Ausstellungen an den Künstler Heino
Jaeger. Nachfahren wie Rocko Schamoni helfen bei der Wiederentdeckung mit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.