# taz.de -- Ein Jahr nach der Naziattacke: Das Glück des Vergessens | |
> Im Juli 2009 wird Jonas K. von Neonazis in Friedrichshain fast | |
> totgeschlagen. Trotzdem engagiert er sich weiter gegen rechts - auch auf | |
> der Silvio-Meier-Demonstration am kommenden Samstag. | |
Bild: Der Tatort: Der S-Bahnhof Frankfurter Allee in Berlin-Friedrichshain | |
Nichts ist mehr da, keine einzige Erinnerung. Als Jonas K. wieder zu Hause | |
ist, nach zwei Wochen Krankenhaus und vier Wochen Reha, blättert er durch | |
Zeitungsartikel über einen Mordversuch von Neonazis an der Frankfurter | |
Allee. Vier Rechtsextreme schlagen einen jungen Mann zusammen, einer tritt | |
ihm mit Bordsteinkicks voller Wucht auf den Kopf. Der 22-Jährige überlebt. | |
"Der Typ hat echt Glück gehabt", denkt Jonas K. Der Typ ist er. | |
"Retrograde Amnesie" attestieren die Ärzte Jonas K. am Krankenbett. | |
Zeitweiliger Gedächtnisverlust. Der 12. Juli 2009, die Tage danach - alles | |
ausgelöscht. Es ist der Zeitpunkt, an dem für Jonas K. beinah alles vorbei | |
gewesen wäre. "Vielleicht", sagt er heute, "ist es am besten, nichts mehr | |
davon zu wissen." | |
Nichts lässt sich der Neuköllner anmerken, wenn er über den 12. Juli | |
spricht. Gelassen nippt er an seiner Club Mate in einem hellen, hippen | |
Friedrichshain-Café. Das schwarze Basecap schräg aufgesetzt, schwarz | |
gerahmte Brille, ein weiter Pullover, Hopper-Style. "Mir gehts gut", sagt | |
Jonas K.. Körperlich sei er wieder fit, es gebe keine bleibenden Schäden. | |
"Psychisch ist das eine andere Geschichte." Er habe aber gelernt, mit den | |
seltenen, plötzlichen Angstgefühlen umzugehen. Regelmäßig trifft er sich | |
mit einem Therapeuten. "Sonst ist alles wie früher, nur dass zwischendurch | |
etwas passiert ist, wovon ich nichts weiß." | |
Es war spät geworden an diesem Samstagabend 2009. Jonas K. ist mit Freunden | |
aufeiner Party in einer Alternativkneipe in Friedrichshain. Mit einer | |
Freundin und einem Kumpel bricht er Richtung S-Bahnhof Frankfurter Allee | |
auf. Das ist das Letzte, woran er sich erinnern kann. | |
Die Polizei rekonstruiert das Folgende: Kurz vorm Bahnhof, im Gang zwischen | |
Bahnbrücke und Einkaufscenter, sprechen gegen 5.30 Uhr zehn Linke vier | |
Neonazis auf ihre Thor-Steinar-Klamotten an. Die Marke erfreut sich unter | |
Neonazis Beliebtheit. Unter den Linken soll sich auch Jonas K. befinden. | |
Die Thor-Steinar-Träger kommen gerade aus dem Jeton, einer von Rechten | |
frequentierten Disko gleich in der Nähe. Es wird ruppig, ein Linker | |
verpasst einem Neonazi eine Platzwunde am Kopf. Die Rechten schlagen | |
zurück, die Linken ergreifen die Flucht. Nur Jonas K. bleibt am Boden | |
liegend zurück. Einer der Neonazis, Oliver K., schlägt und tritt immer | |
wieder zu. Er schleift den bewusstlosen Jonas K. über den Gehweg, dreht | |
sein Gesicht seitlich aufs Pflaster, tritt ihm mit wuchtigen Stampfkicks | |
auf den Hinterkopf. "Du Zecke wirst nicht mehr aufstehen", ruft einer der | |
Neonazis. Erst eintreffende Polizisten zerren Oliver K. von Jonas K. weg. | |
Hirnblutungen, Prellungen und einen Jochbeinbruch stellen die Ärzte im | |
Klinikum Friedrichshain fest. Nach zwei Tagen erwacht Jonas K. auf der | |
Intensivstation aus einer komaähnlichen Dämmerung. Einem Arzt sagt er, dass | |
er nichts darüber wissen will, warum er hier sei. Er wolle sich erst mal | |
erholen. Auch daran kann er sich heute nicht mehr erinnern. | |
Die Tat und ihre Brutalität schreckt den Bezirk, die ganze Stadt auf. "So | |
was gibt es bei uns?", raunt es durch Friedrichshainer Cafés. Noch am Abend | |
versammeln sich 150 Menschen zu einer Mahnwache am Tatort. Autonome | |
bewerfen die Fassade des Jetons mit Steinen. Wenige Tage später | |
demonstrieren 5.000 Menschen durch Friedrichshain. SPD-Innensenator Ehrhart | |
Körting spricht von einer "schrecklichen Tat". | |
Die Rechten werden noch am Tatort verhaftet: Vier junge Männer, 20 bis 26 | |
Jahre alt, aus dem Berliner Umland bei Königs Wusterhausen. Oliver K., | |
Michael L., Marcel B., Michael G sind allesamt vorbestraft, gegen Oliver K. | |
laufen drei offene Bewährungen. Im Internet tauchen Fotos der vier auf. Sie | |
zeigen Marcel B. beim Hitlergruß und Oliver K. mit einem Shirt der | |
Neonazi-Band Skrewdriver. Auf einem Bild ist die Wohnung eines der vier zu | |
sehen. An der Wand hängt ein Filmposter: "American History X". In dem Film | |
bringt ein Neonazi einen Dunkelhäutigen um. Mit einem Bordsteinkick. | |
Als die vier Schläger Anfang dieses Jahres vor dem Berliner Landgericht | |
stehen, geht Jonas K. nur zu einem der Prozesstermine, zu seiner eigenen | |
Zeugenaussage. Es ist der Rat seines Psychologen. Erkennen Sie einen der | |
Angeklagten wieder, fragt der Staatsanwalt. Jonas K. schaut denen, die ihm | |
sein Leben nehmen wollten, in die Gesichter. Und schüttelt den Kopf. Nichts | |
habe er in diesem Moment empfunden, sagt der 23-Jährige heute. Keine Wut, | |
keine Rache. Er kennt die vier ja nicht. | |
Zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt der Richter den Haupttäter Oliver K. | |
Wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung. Michael L. | |
und Marcel B. werden zu zweijährigen Bewährungsstrafen verurteilt. Michael | |
G. wird freigesprochen, seine Tatbeteiligung lässt sich nicht nachweisen. | |
Die Urteile gehen in Ordnung, sagt Jonas K.. "Sie ändern ja jetzt auch | |
nichts mehr." | |
Er hat sich den Tatort angeguckt und Zeitungsfotos. "Ich dachte, vielleicht | |
kommt was." Es kam nichts. Ruhig spricht er über die Juli-Nacht, | |
distanziert. Erzählt, wie die Neonazis "auf ihn eingewirkt" hätten. Er | |
wisse auch bis heute nicht, ob er tatsächlich zu der linken Zehner-Gruppe | |
gehörte, die mit den Neonazis in Streit geriet, sagt Jonas K. Ob es diese | |
Gruppe überhaupt gegeben habe. Oder ob ihn die Rechten zufällig attackiert | |
haben. Er habe allen Bekannten gesagt, dass sie auf ihn zukommen, mit ihm | |
über die Nacht reden könnten. Niemand habe dies getan. "Also habe ich einen | |
Schlussstrich unter das Ganze gezogen." Auch die Polizei stellt das | |
Verfahren gegen Jonas K. im Juli ein - gefährliche Körperverletzung, wegen | |
der mutmaßlichen Beteiligung an der Schlägerei. | |
Er geht jetzt wieder seinem Alltag nach. Jobben, am Wochenende mit Freunden | |
feiern, später vielleicht wieder studieren. Vor knapp drei Jahren kam er | |
nach Berlin zum Informatikstudium, es machte keinen Spaß, er verließ die | |
Uni. Als alternativ, als links, bezeichnet sich der Neuköllner. Das wussten | |
auch die Rechten in seiner Heimat, einem Ostseestädtchen. Jeder kannte | |
jeden. Es blieb bei Pöbeleien. | |
Es sei wichtig, sich öffentlich gegen Neonazis zu positionieren, sagt Jonas | |
K. Ihnen nicht die Straße zu überlassen. Deshalb werde er auch zur | |
traditionellen Silvio-Meier-Demo am Samstag gehen. Silvio Meier, ein junger | |
Hausbesetzer, wurde 1992 von einem Neonazi in Friedrichshain erstochen. | |
Es wird nicht die erste Silvio-Meier-Demo für Jonas K. sein. Aber die erste | |
nach dem 12. Juli 2009. Ein merkwürdiges Gefühl. "Es war knapp letzten | |
Sommer, äußerst knapp", sagt Jonas K.. Was, wenn die Polizisten nicht | |
rechtzeitig gekommen wären? Hätte es dann auch eine traditionelle Demo für | |
ihn gegeben? | |
Jonas K. verlässt das Café, tritt in den abenddunklen Samariterkiez. Er | |
will die S-Bahn nach Hause nehmen. Vom Bahnhof Frankfurter Allee, nur | |
wenige hundert Meter entfernt. Er habe Glück, sagt er. Denn Angst verspüre | |
er keine, wenn er sich allein durch die Stadt bewegt. Auch nachts nicht, | |
auch an der Frankfurter Allee nicht. Vor dem Bahnhof bleibt er kurz stehen, | |
schaut sich um. Dorthin, wo er vor anderthalb Jahren gelegen hat. Eine | |
unwirtliche Ecke sei das hier, sagt er. "Wie viele andere auch." | |
19 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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