# taz.de -- Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Die Angst besiegen | |
> Warnungen vor russischem Raketenbeschuss in Charkiw und Umgebung erweisen | |
> sich als unbegründet. Die Region wird ohnehin schon ständig angegriffen. | |
Bild: Massive Zerstörung nach einem russischen Angriff in Kupjansky am 20. Feb… | |
CHARKIW taz | „Ich wollte nicht einschlafen, um an diesem Tag nicht wieder | |
aufzuwachen“, sagt Karina aus [1][Charkiw]. Wie die ganze Stadt rechnet sie | |
in dieser Nacht mit einem massiven Raketenangriff auf die Metropole im | |
Osten der Ukraine. In der Stadt sind am 23. und 24. Februar wegen der | |
Bedrohungslage sogar einige staatliche Einrichtungen in einen | |
Remote-Betrieb versetzt, in benachbarten Regionen fällt der Schulunterricht | |
aus. Der ukrainische Geheimdienst warnt vor einem massiven russischen | |
Raketenangriff. | |
In der Nacht zum 24. Februar, dem ersten Jahrestag der Invasion, beschießen | |
die Russen nicht das regionale Zentrum, erhöhten dafür aber den Druck im | |
Bezirk Kupjansk in der Region Charkiw erheblich. Nach Angaben des Militärs | |
brauchen die Invasoren Kupjansk, weil es dort ein großes Transport- und | |
Eisenbahnzentrum gibt. Die Besetzung von Kupjansk wird es den Russen | |
ermöglichen, die Versorgung ihrer Truppenkontingente im Donbass zu | |
verbessern, um tiefer auf das Territorium der Ukraine vordringen zu können. | |
In Charkiw, 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, glaubt fast | |
niemand an die Macht von UN-Resolutionen und Aufrufen an Russland. Jeder | |
versteht ganz genau, dass nur die Streitkräfte der Ukraine die Russen mit | |
Hilfe einheimischer und ausländischer Waffen aufhalten können. Die Russen | |
wollen nicht verhandeln. | |
Und da geht es auch schon los – im Osten der Ukraine wird nach der im | |
Herbst 2022 durchgeführten Teilmobilisierung eine groß angelegte Offensive | |
russischer Truppen fortgesetzt. Auch die Region Charkiw wird angegriffen. | |
Insbesondere im Kupjansky-Distrikt greifen die Russen seit mehr als einer | |
Woche Stellungen der ukrainischen Truppen an. | |
## Dem Erdboden gleichgemacht | |
Nach Angaben des Leiters der regionalen Militärverwaltung von Charkiw, Oleg | |
Sinegubow, hat die russische Armee die Siedlung Grjaanikowka vollständig | |
dem Erdboden gleichgemacht, konnte jedoch in diesem Gebiet nicht | |
vordringen. Gleichzeitig setzen die Russen nicht nur gepanzerte Fahrzeuge | |
und Mobilisierte ein, sondern auch eine große Anzahl von Militärflugzeugen. | |
Das hat es seit dem Frühjahr vergangenen Jahres, als die Ukraine eine | |
Luftverteidigung aufbauen konnte, nicht mehr gegeben. | |
Unterdessen geht die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus den gefährlichen | |
Gebieten der Region Charkiw weiter. In den vergangenen 24 Stunden – in der | |
Nacht vom 23. auf den 24. Februar – haben russische Flugzeuge fünf | |
Siedlungen in der Region Charkiw bombardiert – Grjanikowka, Kotljarovka, | |
Krochmalnoje, Dwureschnaja und Ogurtsowa. | |
Darüber hinaus starten die Russen einen Angriff mit MLRS „Tornado-S“ auf | |
die Stadt Ljubotin, die 20 Kilometer westlich von Charkiw liegt. Getroffen | |
wird das Gebäude des Dorfrats im Dorf Dvwuretschnaja, zwei Zivilisten | |
werden von Trümmern begraben. Als die Rettungsaktion beginnt, schießen die | |
Russen zynisch erneut auf dieselbe Stelle. | |
Granatsplitter durchsieben vier Rettungsfahrzeuge komplett. Darüber hinaus | |
beschießen die Russen von ihrem Territorium aus und ohne die Grenze zu | |
überschreiten, den gesamten Norden der Region mit Artillerie ohne | |
Unterbrechung – die Regionen Tschugujewski, Charkiw und Bogoduchowski. | |
Insgesamt werden am Donnerstag in der Region Charkiw neun Zivilisten | |
verletzt. | |
Die Rentner*innen Irina und Nikolai, die das ganze Kriegsjahr über in | |
Charkiw verbracht haben und nicht aus dem Stadtteil Sewvernaja Saltiwka | |
evakuiert wurden, werden auch jetzt, am Vorabend der angekündigten | |
russischen Offensive, ihren Wohnort nicht verlassen. In ihrem eigenen Haus | |
versorgen und füttern sie elf von Nachbarn ausgesetzte Tiere. | |
Nikolai ist sich sicher, dass die Russen an diesem 24. Februar 2023 trotz | |
aller Versuche nicht in der Lage sein werden, die Verteidigung zu | |
durchbrechen und sich [2][Charkiw], wie vor einem Jahr, zu nähern. Er | |
glaubt, dass der wichtigste Sieg darin besteht, dass „wir die Angst | |
besiegen werden“. | |
Die beiden alten Leute können bereits zwischen Granaten und Raketen | |
unterscheiden, mit denen die Russen Charkiw bombardieren. Das ist wichtig, | |
um dem Angriff zu entkommen. Nikolai und Irina wünschen sich vor allem, | |
dass die Ukraine dieses Jahr gewinnt. Damit ihre drei Enkelkinder, die | |
gezwungen waren, nach Finnland zu gehen, endlich nach Hause zurückkehren. | |
Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
24 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Juri Larin | |
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