# taz.de -- Die bengalischen „Buddenbrooks“: Lieben, Intrigen, Reibereien | |
> Neel Mukherjees Roman „In anderen Herzen“ ist ein großes Familienepos. Es | |
> erzählt eine Geschichte aus der Historie Indiens. | |
Bild: Schildert Familienhierarchien wie die Ordnung eines Bienenstaates: Neel M… | |
Es beginnt mit einem Paukenschlag. In all seinen grausamen Details | |
schildert dieser Roman, wie der Tagelöhner Nitai Das seine ganze Familie | |
ermordet, nachdem er zuvor bei seinem Grundbesitzer vergeblich um eine | |
Tasse Reis gebettelt hatte. | |
Er tötet seine Frau und seine drei Kinder, um sie vor dem Hungertod zu | |
bewahren. | |
Während man als Leser noch mit dem Schock ringt, blickt der Roman ungerührt | |
weiter, zum Haus der Familie Ghosh im Süden Kalkuttas, genauer: in der | |
Basanta Bose Road 22/6. In dem viergeschossigen Haus leben drei | |
Generationen unter einem Dach. Die Ghoshs sind eine typisch bengalische | |
Familie der oberen Mittelschicht. | |
In ihrem Haus spiegelt sich die Hierarchien gehorchende indische | |
Gesellschaft. Ganz oben residiert der Patriarch Prafullanath, der mehrere | |
Papierfabriken sein eigen nennt, mit seiner Frau Charubala. Unter ihnen | |
ihre fünf Kinder, allein oder mit ihren neuen Familien. | |
Ganz unten existieren das Personal sowie die verwitwete Schwiegertochter | |
Purba mit ihren zwei Kindern. | |
Der Schriftsteller Neel Mukherjee späht sie alle aus, erzählt allwissend | |
aus wechselnden Perspektiven. Kunstvoll führt er seine Personage und | |
versteht es, den Leser elegant mit allen bekannt zu machen. | |
Der abgedruckte und dem Roman vorangestellte Stammbaum der Familie leistet | |
zudem gute Dienste. Kapitel, die das Leben der Familie abbilden, wechseln | |
sich ab mit Szenen, die vom revolutionären Kampf des ältesten Enkels | |
Supratik erzählen. | |
Es handelt sich um seine Tagebucheinträge, in denen er über sein Leben an | |
der Seite der Entrechteten Auskunft gibt. | |
## Die bengalische Revolution | |
Der Roman setzt im Jahr 1967 ein, als auch in Kalkutta, der Hauptstadt des | |
Bundesstaates Westbengalen und dem intellektuellen Zentrum Indiens, | |
Studenten auf die Straße gehen, sich Maos Schriften im Flug verbreiten und | |
die Menschen beginnen, die Zweiteilung der Welt nicht länger hinnehmen zu | |
wollen. Während sich damals in Europa Studenten mit Fabrikarbeitern | |
solidarisierten, ziehen die bengalischen Revolutionäre im Roman zur | |
Feldarbeit aufs Land. Der gedankliche Überbau ist derselbe, der Spalt | |
zwischen Theorie und Praxis klafft hier wie dort. | |
Mukherjee wendet den Blick abwechselnd nach innen und nach außen, mal zu | |
den Ghoshs, mal in die Welt. Die Idee, eine bürgerliche Familiengeschichte | |
über mehrere Generationen mit den politischen und wirtschaftlichen | |
Verhältnissen im Land ins Verhältnis zu setzen, erinnert natürlich an | |
Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“. Auch Neel Mukherjee berichtet vom | |
Verfall einer Familie und sieht seinen Roman obendrein als | |
Auseinandersetzung mit der bürgerlichen realistischen Literatur und dem für | |
ihn größten Werk dieses Genres, den „Buddenbrooks“. Dabei ist ihm durchaus | |
eine indische Variante gelungen, oder genauer: eine bengalische. | |
Nur vier Jahre umfasst die wesentliche Handlung seines Romans, mit Blicken | |
voraus und in die Vergangenheit. Den Zweiten Weltkrieg, die Unabhängigkeit | |
und die Teilung Indiens würdigt er in Rückblicken auf die Kindheit des | |
Hausherrn. Mukherjee springt nicht nur zwischen seinen Figuren hin und her, | |
sondern auch zwischen den Zeiten. | |
## Unverschämte Unterschiede zwischen Arm und Reich | |
Die Gräben zwischen der Stadtbevölkerung und den auch heute noch | |
mehrheitlich auf dem Land lebenden Indern sowie die unverschämten | |
Unterschiede zwischen Arm und Reich, die Rangplätze von Männern und Frauen | |
und die Ungerechtigkeiten im Zusammenspiel von Eltern und ihren Kindern – | |
der Roman klopft all diese zementierten Verhältnisse ab, ohne die damit | |
einhergehenden Grausamkeiten auszulassen. Stellenweise ist der Roman | |
Zartbesaiteten nicht zu empfehlen. Doch seine Härte zeichnet ihn auch aus. | |
Mukherjee spart nichts aus, sagt, wie es ist, ohne sich in Ironie und | |
tiefere Bedeutung zu flüchten. | |
Geboren wurde er 1970 in Kalkutta, studierte dann in Oxford und Cambridge | |
Englische Literatur. Sein erster Roman, „A Life Apart“, erschien 2008 in | |
Indien und 2010 in England, sein zweiter, „In anderen Herzen“, der im | |
Original den weniger kitschigen und angemesseneren Titel „The Lives of | |
Others“ trägt, schaffte es dann auf die Shortlist für den Man Booker Prize | |
2014. | |
Kein Wunder, schöpft Mukherjee doch aus den Ingredienzen eines typisch | |
indischen Romans und Lebens (arrangierte Ehen, üppige Hochzeiten, | |
Vergötterung erstgeborener Söhne, rasende Schwiegermütter und -töchter, | |
Konflikte zwischen Hindus und Muslimen, Blutsbande, Kastenunwesen, | |
Aberglauben als Staatsreligion etc.) das facettenreiche Porträt einer | |
Familie vor dem Hintergrund der politischen Unruhen der 60er und 70er | |
Jahre. | |
## „Hämatomviolettschwarzer“ Himmel | |
Trotz der wieder wunderbar kenntnisreich und sprachgewandten Übersetzung | |
des Duos Giovanni und Ditte Bandini ist es kein durchgehend süffig zu | |
lesender Roman, sondern einer, der ab und an sperrig daherkommt und | |
manchmal auch ein wenig zu konstruiert wirkt. Auch psychologisch überzeugt | |
nicht alles. Doch Erzählung und Sprache machen vieles wett, etwa indem er | |
das Nesthäkchen der Familie als „nachträglichen Einfall, den man zerstreut | |
an die Hauptgeschichte angehängt“ habe, bezeichnet, oder den Himmel über | |
Kalkutta „hämatomviolettschwarz“ leuchten lässt. | |
Mukherjee nimmt den Verfall der Familie Ghosh sehr ernst, auch weil er den | |
jetzigen Zustand Indiens daran abliest. Sein Erzählen besticht durch einen | |
präzisen Realismus, der in den Tagebucheintragungen von Supratik | |
dokumentarische Form annimmt. Die Familienhierarchien im Hause Ghosh | |
schildert er dabei wie die Ordnung eines Bienenstaates. Das | |
Ineinandergreifen von Lieben, Intrigen und Reibereien und das Verhältnis | |
von denen da oben und ihrer Dienerschaft kann es in puncto | |
Unterhaltungswert und Lehrreichtum mit der Fernsehserie „Downton Abbey“ | |
aufnehmen. | |
Dabei spürt Mukherjee auch immer den Eigenwilligkeiten Bengalens hinterher, | |
entlarvt die Melodramatik im Nationalcharakter und bezichtigt seine | |
Landsleute einer unausrottbaren Dünkelhaftigkeit. Der bengalische | |
Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore durchzieht den Roman wie ein | |
Hausgeist, wobei er manchen Spott aushalten muss. | |
## Ein zutiefst pessimistisches Buch | |
In den Lebensläufen der Kinder und Kindeskinder erfindet Mukherjee dann die | |
tollsten Karrieren: Die einen mutieren zu Mathe-Genies, die anderen | |
verenden elendiglich, wieder andere suchen ihr Heil und Unheil in | |
Drogenexzessen oder in der Welt der Literatur. Die einen finden keinen | |
Mann, die anderen keinen Halt im Leben. Zuweilen beschleicht einen der | |
Eindruck, Mukherjee habe sich nicht nur an den „Buddenbrooks“ orientiert, | |
sondern auch an den exaltierten Lebensläufen der wirklichen | |
Thomas-Mann-Familie. | |
Dabei gelingt es ihm hervorragend, immer wieder mit dramatischen | |
Höhepunkten die Spannung des Romans zu halten. Im großen Finale ereignen | |
sich dann grausam gut geschriebene Folterszenen. | |
In seinem Kern gleicht das Buch einer Abrechnung mit einem Land, in dem | |
sich die Dinge nicht zum Besseren gewendet haben. Es ist nicht nur der | |
Verfall einer Familie, der hier verhandelt wird, sondern der Verfall eines | |
Landes. Es ist ein zutiefst pessimistisches Buch und damit ein kaum | |
auszuhaltend realistisches. | |
26 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Shirin Sojitrawalla | |
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