# taz.de -- Dennis Coopers Blog ist offline: Abschaltung einer Welt | |
> Zehn Jahre lang hat der Schriftsteller Dennis Cooper an seinem | |
> herausragenden Blog „DC’s“ gearbeitet. Bis Google ihn einfach gelöscht | |
> hat. | |
Bild: Dennis Cooper vermutet, die Datingprofile junger Männer seien schuld am … | |
Vor ziemlich genau einem Monat, am 27. Juni, löschte die Google-Tochter | |
Blogspot ohne Vorwarnung „DC’s“, den Blog des großen amerikanischen Auto… | |
Dennis Cooper. Bis heute gab es, trotz zahlreicher Anfragen, keine | |
offizielle Erklärung der Firma zu dem Grund der Entfernung. Coopers | |
Gmail-Adresse wurde ebenfalls deaktiviert. | |
Über zehn Jahre lang hatte Cooper den Blog täglich erweitert und auf ihm | |
sogar zwei digitale Romane veröffentlicht, die nicht aus Wörtern und | |
Sätzen, sondern aus GIFs bestehen. In bestimmten Kreisen, zu denen ich mich | |
zähle, war diese Webseite einer der wichtigsten Treffpunkte im Internet | |
überhaupt, eine einzigartige Sammlung von Essays, Collagen, Gastbeiträgen, | |
Listen. Und diese wunderbare Welt wurde nun abgeschaltet. Nicht einmal das | |
Internetarchiv [1][Wayback Machine] findet frühere gespeicherte Versionen | |
der Seite. | |
Dennis Cooper ist in deutschsprachigen Ländern verrückterweise wenig | |
bekannt. Seine Bücher wurden zwar übersetzt, aber sind längst vergriffen. | |
Dabei bilden seine Romane und Theaterstücke eines der großartigsten | |
gegenwärtigen Werke der Weltliteratur. Ich erinnere mich an eine Aufführung | |
seines Stücks „Jerk“ in Graz, in der ich (der Theateraufführungen sonst | |
kaum aushält) hypnotisiert und aufgewühlt saß. | |
Als Teenager traf Dennis Cooper einen Jungen namens George Miles. Er war | |
der Bruder eines Freundes von Cooper, und eines Tages, als George aus einem | |
üblen LSD-Trip nicht mehr herausfinden wollte, wurde Cooper, der sich mit | |
Drogen auskannte, gerufen, um ihn zu beruhigen. Die beiden Teenager hingen | |
daraufhin immer öfter miteinander ab, schließlich verliebten sie sich | |
ineinander, gingen eine echte Beziehung allerdings erst viele Jahre später | |
ein, als Cooper schon beinahe dreißig und Miles Mitte zwanzig war. George | |
Miles litt an einer bipolaren Störung, die immer wieder Einweisungen in die | |
Psychiatrie notwendig machten; schließlich beging er Selbstmord. | |
## Furchtlos, eisklar und beseelt | |
Die Beziehung zu dem unendlich komplizierten jungen Mann wurde die | |
Inspiration für den vielleicht ungewöhnlichsten Romanzyklus des späten | |
zwanzigsten Jahrhunderts: den „George Miles Cycle“. Er besteht aus den | |
Romanen „Closer“ (dt. „Ran“), „Frisk“ (dt. „Sprung“), „Try“… | |
„Guide“ (dt. „Fort“) und „Period“ (dt. „Punkt“) und wurde 1986 … | |
kurz nachdem Cooper von Los Angeles nach Amsterdam übergesiedelt war. Seine | |
späteren Romane „The Marbled Swarm“ und „The Sluts“ sind Meisterwerke, | |
verdichtet und klar wie Punksongs. | |
Wenn ich mir eines wünschen dürfte, dann wäre es, in der Literatur so | |
furchtlos, so eisklar und beseelt zu sein wie Dennis Cooper. Er war der | |
erste Schriftsteller, dem ich (mit 19, glaube ich) einen Fanbrief schrieb. | |
Wie viele Bücher, wie viele Künstler habe ich durch „DC’s“ kennen geler… | |
Félix Fénéon, Joseph Cornell, Alain Robbe-Grillet, Robert Pinget, Denton | |
Welch, Ivy Compton-Burnett, Samuel R. Delany, ja sogar – ich weiß, wie | |
absurd das klingt – Ulrich Seidl. Und viele mehr. Der Blog war, kurz | |
gesagt, meine Akademie. Das wichtigste Museum in meinem Leben. | |
Die allerschönsten Einträge waren übrigens die von Cooper jeden Monat | |
eigenhändig zusammengetragenen Ausschnitte aus Profilen schwuler | |
Datingwebseiten. Weniges im Internet war auf so seltsame Weise bewegend wie | |
diese. Meist nur ein einzelnes Bild und dazu die kurze Beschreibung des | |
Users. Die scheuverwirrte Ich-Prosa der sich meist als Sklaven auf der | |
Suche nach einem Meister präsentierenden jungen Männer ließ keinen | |
Augenblick die Möglichkeit zu, sich ihnen als Leser überlegen zu fühlen, im | |
Gegenteil, ihrem Originalkontext enthoben, ergaben sie kleine Poeme von | |
erschütternder Intensität. Ich wünschte, ich könnte ein Beispiel anführen. | |
Aber alles, was noch da ist, sind tote Links. | |
Die automatisierte Benachrichtigung über die Entfernung des Blogs, die | |
Cooper per Mail erhielt, erklärt nichts. Sie verweist nur auf die | |
Nutzungsbedingungen. Diese hat man schnell durchgelesen, ein paar Zeilen. | |
Man erfährt: Seiten mit Pädophilie werden auf der Plattform Blogger nicht | |
geduldet, ebenso Fotos von Vergewaltigungen, Inzest und so weiter. Ebenso | |
Seiten mit Links zu kommerziellen Pornowebseiten. Nichts Überraschendes. | |
Und auch nichts, was irgendwie auf „DC’s“ anwendbar scheint. In Coopers | |
Werk geht es durchaus häufig um grauenhafte Dinge wie sexuelle Verbrechen | |
oder unbegreifliche, gefährliche Begierden, aber das sind Worte, keine | |
Dokumentationen irgendeiner realen Straftat. | |
Dennis Cooper selbst vermutet, wie er der Journalistin Jennifer Krasinski | |
vom New Yorker erklärte, dass es tatsächlich die Datingprofile junger | |
Männer waren, welche zu der verhängnisvollen Entscheidung geführt haben. | |
Eine ehemalige Google-Mitarbeiterin, ebenfalls von Krasinski befragt, | |
vermutet dagegen einfach ein Missverständnis eines Reviewers bei Google. | |
Das komme vor, sagte sie. Ein unaufmerksamer Mitarbeiter, dem einfach | |
irgendetwas nicht gefiel. Eine Angelegenheit von nur wenigen Sekunden | |
Denkzeit und Reflexion. | |
Anders als bei staatlicher Zensur ist es in solchen Fällen nicht einmal aus | |
historischer Sicht möglich, den genauen Grund zu erfahren. Es existieren | |
keine geheimen Archive, die später vielleicht geöffnet werden, es | |
existieren keine verantwortlichen Machthaber und Vollstrecker der Zensur. | |
Private Organisation darf mit ihrem Eigentum tun, was sie will. Sie darf es | |
auch in etwas verwandeln, was nie existiert hat. Und dafür genügt es, dass | |
einige wenige schockierte Leser die Seite „meldeten“. | |
Die ganze Macht über die Kunst und ihre Freiheit liegt heute bei einigen | |
wenigen, die sich über ihre erhöhte Verletzbarkeit definieren. Oft ist es | |
sogar nur eine einzelne Stimme, die sich über etwas empört und deshalb eine | |
Kettenreaktion in Gang setzt. Dennis Cooper kann Google verklagen, aber wer | |
weiß, wie weit man damit kommt. | |
## Die Cloud lieben | |
Die Anwesenheit eines Konzerns wie Google, mit seiner beinahe endlosen | |
Speicher- und Rechenkapazität, durchstrahlt mit großer | |
Selbstverständlichkeit alle unsere Lebensbereiche. Und klar, ich genieße es | |
sehr, dass der erste Leser, den ich habe, nicht etwa ein anderer lebender | |
Mensch ist, sondern der alles analysierende und einordnende Algorithmus, | |
der den Inhalt meines Google Drive in jedem Augenblick scannt. Ich fühle | |
mich wohl neben dieser unbeeindruckbaren Intelligenz, die nichts von mir | |
versteht und mich doch besser kennt als meine Mitmenschen. | |
Viele Künstler lieben die Cloud, und das zu Recht. Aber all das bedeutet | |
nicht, dass sich das gigantische Datenwesen, das sich von unseren | |
Erzeugnissen ernährt, auch in irgendeiner Weise für uns interessiert oder | |
auf das Wohlergehen unserer Erzeugnisse achtet. | |
Es kann sich ohne nachvollziehbare Motivation dazu entscheiden, unsere | |
Kunst, unsere Welten und Museen, die wir mit seiner Hilfe errichtet haben, | |
in einer Sekunde zu verschlucken und danach auf keine Anfragen mehr zu | |
reagieren. Es besitzt das Recht der absoluten Gleichgültigkeit, der | |
interesselosen Verwandlung seiner selbst in was immer es zu sein wünscht. | |
Wir sind nur sein Rohstoff. Das kann uns ehren oder erniedrigen, man weiß | |
es nie so genau. | |
Jedenfalls haben wir es so erschaffen und nun ist es da und schuldet uns | |
nichts. Ein klassischer Satz der Literatur drängt sich auf, Albert Camus’ | |
oft zitiertes Diktum: „Das Absurde entsteht aus dieser Gegenüberstellung | |
des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.“ Google | |
kann, wie es bewiesen hat, mindestens so vernunftwidrig schweigen wie die | |
Welt, die Natur, der Sternenhimmel, das Universum oder was auch immer man | |
wählt, um sich darin zu verlieren. | |
31 Jul 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://archive.org/web/ | |
## AUTOREN | |
Clemens Setz | |
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