# taz.de -- Besuch auf Karls Erdbeerhof: Im Herz der Erdbeernis | |
> Früher haben hier sowjetische Soldaten geschossen, heute verkauft Karls | |
> Erdbeerhof alles, wo die rote Frucht drin, dran oder drauf ist. | |
Bild: Alle so schön rot hier: Karls Erdbeerhof | |
In meinem Rucksack stecken eine aufgeschnittene Wassermelone, acht | |
Bananenbrote, vier Liter Isostar, sechs Ibuprofen 400, Feuchttücher, | |
Desinfektionsmittel, Spreequell ACE und eine Eierschrippe von Backwerk. | |
Eben das, was man stets auf Vorrat hat für einen Ausflug ins | |
Erdbeer-Erlebnis-Dorf. Wir fahren im RE 4 nach Elstal – zehn Kilometer | |
westlich von Berlin steht einer der fünf Vergnügungsparks von Karls, dem | |
Erdbeer-Tycoon. Hier dreht sich alles um die Sammelnussfrucht. | |
Meine Freundin Kati wäre heute mit Putzen dran gewesen, doch auf Tiktok | |
springt ihr der „Löffel-Jet“ ins Auge: ein Karussell im Wasser. Familien | |
kreisen in riesigen Löffeln um ein Marmeladenglas. Kati ist komplett | |
geflasht und kommt mit. „Meinst du, die haben Bratwurst im Erdbeerdorf?“, | |
fragt sie. Da fällt es uns wie Eicheln von den Eichen: Wir reisen in das | |
Herz des deutschen Erdbeertraums. | |
1921 gründet Karl Dahl einen Gemüsehof bei Rostock. Mit einem Pferdekarren | |
soll er damals seine Waren in die Stadt gebracht haben. Nach dem Krieg geht | |
es mit der Familie nach Holstein, in die Nähe der Schwartauer | |
Marmeladenfabrik, und Dahl sattelt komplett auf Erdbeeren um – 200 Jahre | |
nachdem die heute verbreitete Fragaria ananassa in der Bretagne gekreuzt | |
worden sein soll. Drei Generationen Dahl leben das deutsche Erdbeerwunder. | |
Doch mit der Wende kommen günstigere Erdbeeren aus Polen. | |
Am Bahnhof Elstal fährt ein Bus zur Endstation Erlebnisdorf. Der Bus ist | |
voll mit Grundschulkindern, ihren Eltern und Geschwistern. Es ist jetzt | |
schon eine soziale Utopie. | |
## Unfassbare Lebensbejahung | |
Der Park sieht aus, als habe hier seit der Feudalzeit ein Bauernhof | |
gestanden. Hat er nicht. Wo heute Erlebnisdorf ist, stand einst der erste | |
deutsche Militärflughafen, gebaut in der Kaiserzeit. Später erzählt mir | |
Robert Dahl, der Enkel von Karl, [1][das Gelände sei ihm schon als Kind | |
aufgefallen, als er im Transitbus nach Westberlin fuhr]. Da robbten Sowjets | |
umher und er habe große Augen gemacht. Heute ist Robert Dahl, 51 Jahre, der | |
Chef des Erdbeerreichs. | |
Trotz Stacheldraht drumrum umweht das Dorf [2][eine unfassbare | |
Lebensbejahung, sie riecht nach Brause]. Ein Herr steigt von seiner Harley | |
und kämmt sich noch einmal die Haare im Rückspiegel seiner Maschine. Mit | |
Kinderwägen in den Hacken dackeln wir durch die Drehtür. | |
Ein Fegefeuer des Merchandising erleuchtet die Halle: Erdbeerkerzen, | |
-kuscheltiere, -brote, -gummibärchen, -radler, -ohrringe, -hundekekse. | |
Erdbeeren X everything. Allem Trubel zum Trotz kicken die Oma-Vibes. Denn | |
unterm Dachgiebel weilen 8.000 Kaffeekannen, in zwanzigstöckigen Regalen, | |
gleich, wohin wir sehen. Laut „Guinnessbuch der Rekorde“ lagert in den | |
Erdbeerdörfern zusammen die größte Kaffeekannensammlung der Welt, | |
crowdgesourct von Karls’ Kundschaft, abzugeben sind die Kannen am | |
Infostand. „Beerchen-Schleuder“, „Fliegende Kaffeetafel“, „Saftpresse… | |
Erste Fahrgeschäfte kreisen bereits im Hofladen. | |
[3][„Wie krass kann man das Konzept Erdbeere aufblasen?“], frage ich Kati. | |
Ich erinnere mich an die Karls-Story im Internet. Da ist erzählt: Die | |
initiale Luftpumpe kam aus Wimbledon. Dort ist Roberts Schwester Ulrike | |
Dahl zum Schüleraustausch, kurz nach der Wende, als die Alman-Erdbeere | |
Konkurrenz aus Polen bekommt. Ulrike Dahl sieht eine Erdbeerbude – selbst | |
im Look einer Erdbeere. Bald baut ein Schiffsbauer für Karls die ersten | |
Riesenerdbeeren mit Theke. Der Erdbeertraum wird zum Ding, an | |
Straßenrändern und in U-Bahn-Stationen zwischen Ostsee und Leipzig. | |
Vor den Toiletten der Verkaufshalle schlurft nun ein Papa umher und | |
imitiert Furzgeräusche. Um seinen Hals hängt eine Jahreskarte von Karls. | |
Raus hier. | |
Im Freien thront eine Erdbeere über uns, groß wie eine Raumkapsel, sie hat | |
einen Mund, grinst uns mit der unteren Zahnreihe an. Auweh, sie blickt gar | |
auf uns herunter mit smaragdgrünen Augen und Brauen lang wie Kochlöffel. | |
Die Erdbeere zwinkert uns zu. Wir senken den Kopf und überblicken die | |
Situation wieder: Die Frucht sitzt auf einem Monitor. Auf dem erzählt | |
Robert Dahl, graue Weste, Goldring, stonewashed Jeans, von einer großen | |
Unzufriedenheit. | |
Dahl blickt zurück ins Jahr 2010, da steht neben dem Ur-Erdbeerhof samt | |
Laden bei Rostock schon ein Spielplatz, und Karls Erdbeeren landen in | |
deutschen Schleckermäulchen, also da, wo sie hingehören. Doch an den Jahren | |
des Erfolgs haftet eine Sinnkrise: Wofür steht Karls? Und damit die | |
Erdbeere an und für sich? Der Misere begegnet Dahl gemeinsam mit Frau, | |
Schwester und Notizbuch. In dem landen 80 Adjektive, es bleiben 6, der | |
Unternehmer zählt sie an seinen Fingern auf. „Authentisch“ ist ihm das | |
wichtigste: „Zum Beispiel können wir statt in Palmöl in Rapsöl frittieren. | |
Das ist wiederum authentisch, wir brauchen kein Palmöl!“ | |
Design Thinking tut den Rest – seitdem ist die authentisch augenzwinkernde | |
Erdbeere auf Robert Dahls Schultern offenbar seine Muse. Lila | |
Leuchtgummibälle fliegen aus dem Karls-Shop, dafür ist nun ganz viel Rummel | |
und Manufaktur – fünf Dörfer gibt es bisher, alle im Nordosten | |
Deutschlands, weitere werden dazukommen. Etwa drei Viertel des Geschäfts | |
machen die Erdbeerdörfer mittlerweile aus, sagt Karls-Chef Dahl am Handy, | |
bleibt ein Viertel für die Erdbeeren selbst. | |
Von der verführerischen Blinzel-Erdbeere blicke ich nach links. Menschen | |
strecken ihre Arme über einen Grill. In ihren Händen: ein Stock. Am Stock: | |
Brotteig. An den Stöcken der Kinder: Marshmallows. Woher nur? Mein Blick | |
wandert zu einer Hütte, eine Tafel bepreist die Speisestöcke auf zwei Euro. | |
Oh, es gibt Bratwürste. Klarer Fall. | |
Kati wählt normal, ich bestelle „Erdbeer-Ische“. Sie heißt wirklich so: | |
Eine Bratwurst mit Erdbeerpüree drin, sie trägt die Farbe eines heftigen | |
Sonnenbrands. Ich tauche sie in Erdbeer-Senfsoße, deren Süße sagt der Zunge | |
Hallo, dann beißt die Senfschärfe, schließlich wabert ein lieblicher Brei | |
von Schwein und Erdbeer im Mund; nun ja, spannend, denke ich. Kati probiert | |
und sagt: „Ätzend.“ | |
Vor unserer Rückfahrt will ich unbedingt den Erdbeer-Drop fahren: Ein rotes | |
Bötchen schlittert über eine Rampe und platscht in einen Teich. Der „Drop“ | |
kostet zwei Erlebnistaler, die Karls-eigene Währung mit dem eingeprägten | |
Erdbär-Maskottchen. In der Erdbeer-Drop-Schlange fragt ein Mädchen ihren | |
Vater: „Wie viel Frauen hast du schon enttäuscht?“ Er antwortet: „Das mu… | |
du sie selbst fragen.“ | |
Zwanzig Minuten später werfe ich die Taler in einen Schacht, ziehe zweimal | |
am Seil und werde hochgezogen. Oben ein kurzer Ruck, Beschleunigung, die | |
Schanze hoch und da bin ich: schwerelos über einem Bassin, in der Luft das | |
ewig pfeifende Lied aus den Lautsprechern des Parks, rechts von mir gleiten | |
Löffel um ein Marmeladenglas, in der Systemgastronomie links schwitzen | |
Kartoffeln in Rapsöl. All das dauert das Augenzwinkern einer | |
Riesenerdbeere, da macht es Platsch. Der pure Spaß. Das Seil zieht mich | |
zurück zur Basis, ich lasse meine Hand neben dem Boot ins Wasser fallen. Es | |
ist glitschig, grün, authentisch. | |
Kati und ich verlassen das Erdbeerdorf. Wir haben keine Erdbeere gegessen. | |
2 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Streit-um-Brandenburger-Erlebnisdorf/!5761468 | |
[2] /Kolumne-Aufgeschreckte-Couchpotatoes/!5556288 | |
[3] /Miese-Arbeitsbedingungen-bei-Karls-Hof/!5089496 | |
## AUTOREN | |
Fabian Stark | |
## TAGS | |
Erdbeeren | |
GNS | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Miese Arbeitsbedingungen bei „Karls Hof“: „Unerträgliche Erdbeer-Nazis“ | |
Viele Städte sind mit den quietschroten Verkaufsbüdchen geradezu | |
überschwemmt: Es ist Erdbeerzeit. Doch wer die Früchte verkaufen muss, hat | |
einen prekären Job. |