# taz.de -- Berliner Hilfe für Obdachlose: Die guten Dealer von Neukölln | |
> Viermal in der Woche kommt Stephan May zum Berliner Hermannplatz. Rund | |
> 150 Menschen werden mit einer warmen Mahlzeit versorgt. Das kommt gut an. | |
Bild: Essensausgabe der „Warmspeisendealer“ am Hermannplatz | |
„Penner, Junkie oder Schmarotzer“ sind fast noch harmlose Beleidigungen für | |
Philip. „Ich werde fast täglich angespuckt“, berichtet der 30-Jährige. | |
„Letztens wurde meine Frau vom Auto angefahren.“ Er zeigt auf das schiefe | |
Knie seiner Frau, das sich durch ihre enge Jeans abzeichnet. | |
Philip lebt seit 20 Jahren auf der Straße. Seine braunen Haare sind kurz | |
und verwuschelt, „PJ“ ist in schwarzer Tinte auf seinen Hals tätowiert. Es | |
nieselt. Seine Lederjacke scheint etwas dünn für Temperaturen um die null | |
Grad, doch ein großer Hund mit schwarzer Mähne wärmt seine Füße. Im Schoß | |
hält er eine Gitarre und beschallt den Hermannplatz mit rockiger | |
Gutelaunemusik. | |
## Essen auf Lastenrädern | |
Ein paar Meter weiter fahren drei voll beladene Lastenfahrräder vor. Auf | |
dem einem häuft sich Brot, auf den anderen zwei sind Thermoskannen | |
aneinandergereiht und zwei große silberne Töpfe festgemacht. Der Geruch von | |
Fleisch hängt in der Luft. Es trudeln immer mehr Menschen ein. Einige | |
scheinen verwahrlost, betrunken und überschwänglich, andere gepflegt und | |
bescheiden, mit gesenktem Blick. Einen Mann mit blauem Fahrradhelm begrüßen | |
jedoch alle mehr oder weniger herzlich. | |
Stephan May. Ein zierlicher, ruhiger Mann in sportlicher Kleidung. Morgens | |
und nachts arbeitet er als Pfleger, doch vor drei Jahren fing er an, | |
ehrenamtlich mit dem Fahrrad Essen an Bedürftige zu verteilen. Im Winter | |
ist er teils schon um vier Uhr morgens vor der Frühschicht unterwegs. | |
Mittlerweile unterstützen ihn regelmäßig etwa 15 Nachbar:innen. „Ein paar | |
Leute fahren gerade im Kiez rum und schicken die Menschen von den | |
U-Bahnhöfen her“, schildert er. „Andere holen Essen vom Foodsharing ab.“ | |
Von den Sach-, Essens- oder Geldspenden bis hin zur Essensausgabe: Das | |
gesamte Projekt wird von Menschen aus der Nachbarschaft gestemmt. | |
Jeden Donnerstag bis Sonntag von 18 bis 19 Uhr stehen die | |
„Warmspeisen-Dealer“, wie May seine Arbeit scherzhaft nennt, am | |
Hermannplatz. Rund 150 Menschen versorgt er so am Tag mit einer warmen | |
Mahlzeit. Und das ganzjährig. Im Winter sind viele Hilfsprojekte in der | |
Stadt unterwegs, doch die Menschen leben das ganze Jahr über auf der | |
Straße. 2020 waren es, Zählungen des Berliner Senates zufolge, mehr als | |
1.976 Leute. Die Dunkelziffer wird höher geschätzt. | |
Um möglichst viele Menschen zu erreichen, sind die Lastenfahrräder ideal. | |
„Versuch da mal überall mit dem Auto hinzukommen“, meint der Pfleger. „Du | |
kannst nirgends in zweiter Spur parken, du kommst nicht an die Leute, und | |
ich bin in derselben Arbeitstemperatur wie die Menschen, die auf der Straße | |
leben. Das ist vom Kopf her sehr wichtig.“ Für ihn sind die Leute hier | |
keine Obdachlosen. Der Begriff sei natürlich formal richtig, meint May, | |
doch stehe dabei der Mensch nicht im Vordergrund. Das sehe man nun auch an | |
den Corona-Impfungen. | |
Ende Februar verkündete Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke), | |
3.000 obdachlose Menschen mit nicht verwendeten AstraZeneca-Dosen gegen das | |
Coronavirus impfen zu lassen. Der Funke Mediengruppe gegenüber erklärte | |
sie, es sei in der aktuellen Situation nicht hinnehmbar, dass Impfdosen | |
ungenutzt herumlägen. May hingegen findet es falsch, dass die Obdachlosen | |
hier mal wieder nur die Reste der Gesellschaft bekämen. | |
Darum gibt es in seinem Fahrradrestaurant auch eine extra Speisekarte für | |
seine Gäste. Heute Abend steht Reis mit Schawarma auf dem Menü, davor einen | |
Tee oder Kakao zum Aufwärmen. Wer möchte, bekommt noch ein Brot oder ein | |
Lunchpaket vom „Kreuzberger Himmel“ in die Hand gedrückt. Der Kreuzberger | |
Himmel ist ein Restaurant, das von Geflüchteten betrieben wird. Neben dem | |
Restaurantbetrieb kochen sie seit der Coronapandemie auch für obdachlose | |
Menschen. Mehrere Hundert Portionen pro Tag liefert die Küche an | |
unterschiedliche Obdachlosen-Versorgungsstationen. | |
An kulinarischer Vielfalt mangelt es am Hermannplatz kaum. Dafür sorgt | |
Sebastian Gonnsen. Der gelernte Koch begegnete Stephan May vor zwei Jahren | |
bei der Essensausgabe und packte direkt mit an. Die beiden wirken | |
mittlerweile unzertrennlich und doch so unterschiedlich. Während May auf | |
Fahrradtour nach Afghanistan ging, lebte Sebastian einige Monate auf der | |
Straße in Frankfurt. Während May eher ruhig und bedacht wirkt, redet | |
Gonnsen gerne ohne Filter. Doch ihre familiäre, selbstlose Art eint sie. | |
„Du hast hier nicht das Gefühl, dass du bei irgendeiner Truppe bist, die | |
Essen verteilt“, ruft der Straßenmusiker Philip, während er das gerade | |
geholte Essen vor sich auf den Boden stellt. „Das ist hier eher wie bei | |
Tantchen und Onkel. Das Gefühl ist einfach sehr heimisch.“ | |
„Selbstverständlich gibt es auch mal Stress“, meint Sebastian Gonnsen. Es | |
würden immer mal welche provozieren. „Das kenne ich ja auch noch von mir | |
früher“, berichtet er. Aber das Wichtigste sei, die Ruhe zu bewahren. | |
Ob mit Anträgen, Arztterminen oder Behördengängen, Gonnsen hilft, wo er | |
kann. Drei Menschen konnte er so helfen, wieder eine eigene Wohnung oder | |
ein eigenes Zimmer zu beziehen. Er weiß, wie es den Leuten geht, und | |
begegnet ihnen auf Augenhöhe. | |
„Man merkt bei den Jungs hier direkt, dass sie versuchen, noch mal einen | |
draufzusetzen“, erklärt eine junge Frau an der Seite von Straßenmusiker | |
Philip begeistert und verschüttet dabei etwas Bier. „Also von der | |
Freundlichkeit, von dem Dasein. Bei der Kältehilfe und so ist das alles | |
immer zack, zack, zack.“ | |
Zu ihm haben sich mittlerweile vier Freunde gesellt. Neben ihm verteilt ein | |
großer junger Mann OP-Masken aus seinem aufgerissenen Rucksack an die | |
Umstehenden. Einige Meter weiter essen kleine Grüppchen vor Karstadt, | |
unterhalten sich oder essen schweigend nebeneinander. Und für eine Stunde | |
finden diejenigen, die täglich mit dem Leben auf der Straße kämpfen, am | |
trubeligen Hermannplatz etwas Menschlichkeit und Ruhe. | |
15 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Celine Weimar-Dittmar | |
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