# taz.de -- Autorin über ihre Mutter Sonia Rykiel: „Für mich war sie unbesi… | |
> Sonia Rykiel hat Modegeschichte geschrieben. Nach ihrem Tod | |
> veröffentlichte ihre Tochter ein zweites Buch über ihre enge Beziehung. | |
Bild: Ein Herz und eine Seele: Sonia Rykiel und ihre Tochter Nathalie (rechts) | |
Donnerstag, der 1. September 2016, in Paris. Nathalie Rykiel, Tochter der | |
Modemacherin Sonia Rykiel, steht vor dem Grab ihrer Mutter und spricht ein | |
letztes Mal zu dieser Frau, mit der sie seit ihrer Geburt vor sechzig | |
Jahren keinen Tag lang nicht gesprochen hat. Sonia und Nathalie, das war | |
eine Familie, ein Team, auch ein Paar: „Deine Tochter sein. Das große | |
Abenteuer meines Lebens“, sagt Rykiel an diesem sonnigen Nachmittag. Knapp | |
ein Jahr später veröffentlicht sie ein Buch, in dem sie von diesem | |
Abenteuer erzählt. „Écoute-moi bien“ ist eine Hommage an ihre Mutter und … | |
sind die Memoiren einer sehr speziellen Liebe. | |
taz: Madame Rykiel, es ist bekannt, dass Sie und Ihre Mutter eine sehr | |
enge, symbiotische Beziehung hatten. Trotzdem war sie nicht immer einfach. | |
Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb Mutter-Tochter-Beziehungen so | |
komplex sind? | |
Nathalie Rykiel: Also Sie stellen vielleicht Fragen! Das ist ja quasi eine | |
philosophische Frage. Aber Sie haben recht: Die Mutter-Tochter-Beziehung | |
ist immer schwierig, egal ob man eine so spezielle Mutter wie meine oder | |
eine, sagen wir, normalere hat. Wahrscheinlich weil wir gleich sind. Selbst | |
wenn wir uns als „Andere“ entwickeln müssen, sind wir unseren Müttern doch | |
sehr ähnlich. | |
Die meisten Frauen hassen es, wenn sie bemerken, dass Sie ihrer Mutter | |
ähneln. | |
Stimmt. Das kommt dann wohl auf die Mutter an. | |
Sie haben Ihre Mutter sehr geliebt. Ihr Tod vor einem Jahr ließ Sie, so | |
sagten Sie es auf der Beerdigung, nicht nur als Waise, sondern auch als | |
Witwe zurück. Hat dieses neue Buch Ihnen bei der Trauerbewältigung | |
geholfen? | |
Vielleicht. Das Schreiben hilft ja immer. Ich habe mich am Morgen nach dem | |
Tod meiner Mutter eingesperrt, um über sie zu schreiben. Wenn ich sage | |
eingesperrt, meine ich wirklich eingesperrt: Ich habe meine Wohnung nicht | |
mehr verlassen. Monatelang. Bis das Buch fertig war. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass Sie über Ihre Mutter Sonia Rykiel | |
schreiben. Ihr erstes Buch handelte auch schon von ihr. Ist mit „Écoute-moi | |
bien“ alles gesagt? | |
Ich weiß es nicht. Meine Mutter war, wie Sie wissen, eine so | |
außergewöhnliche Frau, da wird wohl nie alles gesagt sein. | |
Was machte sie, abgesehen davon, dass sie eine große Modemacherin war, so | |
außergewöhnlich? | |
Sie war wahnsinnig frei. Wahnsinnig lustig. Voller Ideen. Das war fast | |
schon ein Problem. Außerhalb von ihr wirkte alles unglaublich trist und | |
öde. Deshalb habe ich sie ja auch nie verlassen. Es war zu schön, in ihrer | |
Nähe zu sein. | |
Die Frage stellt man sich tatsächlich beim Lesen: Wie konnten Sie diese | |
Nähe ertragen? Hatten Sie nie Lust zu gehen und Ihr eigenes Ding zu machen? | |
Komischerweise nein. Der Gedanke ist mir noch nicht einmal gekommen. | |
Natürlich war diese Beziehung wahnsinnig einnehmend, aber meine Mutter hat | |
mich nie an etwas gehindert. Ich bin aus freien Stücken geblieben. Heute | |
denke ich, der enge Kontakt zu ihr hat mir erlaubt, eine interessantere | |
Version meiner selbst zu werden. | |
Trotzdem erzählen Sie auch, dass Sie als junge Frau unsicher waren, ob Sie | |
außerhalb dieser Mutter existieren. Ob Sie zum Beispiel so etwas wie einen | |
eigenen Geschmack haben. | |
Das stimmt. Allerdings war ich da auch recht jung. | |
Wann haben Sie entdeckt, dass Sie ein unabhängiges „Ich“ sind? | |
Das weiß ich nicht mehr. Allerdings weiß ich noch genau, wann meine Mutter | |
es entdeckt hat: Ich war damals um die vierzig. Ich hatte gerade zum | |
zweiten Mal geheiratet und für mich und meine Familie ein neues Haus in | |
Paris eingerichtet. Als meine Mutter mich zum ersten Mal dort besuchte, war | |
sie absolut sprachlos. Ich werde ihren Gesichtsausdruck nie vergessen: Sie | |
konnte nicht fassen, dass ich ein Haus so schön und vor allem so anders als | |
sie einrichten konnte. An dem Tag hat sie bemerkt, dass wir nicht dieselbe | |
sind. | |
Das schien bei ihr ja wirklich recht konfus. Sie machte eine lustige Sache: | |
Sie schrieb in all Ihre Skizzenbücher auf die erste Seite „Nathalie“. | |
Warum? | |
Das müssten Sie sie schon selber fragen. Ich weiß es leider nicht. | |
Aber Sie wussten, dass sie das macht? | |
Selbstverständlich. Sie zeigte es mir ja immer. Immer wenn sie ein neues | |
Heft anfing, meinte sie ganz stolz: „Schau, hier habe ich Nathalie | |
hingeschrieben.“ Sie fand das super. | |
Fanden Sie das auch super? | |
Natürlich war das eine Aneignung von ihr. So wie man in seine Schulhefte | |
seinen Namen schreibt, schrieb sie meinen, als wäre sie ich oder ich sie. | |
Das hat mich aber nie gestört. Im Büro klaute sie mir meine Notizbücher, | |
auf denen oben mein Name stand, und hinterließ mir kleine Nachrichten, etwa | |
„Gehen wir Mittagessen“, und Zeichnungen, über denen immer „Nathalie | |
Rykiel“ stand. Das war ihre Magie. Die Magie unserer Beziehung. | |
Ihre Mutter entwarf ihr erstes Kleid, als Sie mit Ihnen schwanger war. | |
Könnte das vielleicht auch ein Grund sein? Also, dass Sie in gewisser Weise | |
am Anfang des Abenteuers „Sonia Rykiel“ standen? | |
Oh! Nun ja. Ich kann das nicht so sagen, das wäre ja unglaublich | |
prätentiös. Aber Sie dürfen das natürlich so erzählen, wenn ihnen die Idee | |
gefällt. | |
Sie sind trotz Ihres nicht unbedingt überragenden Interesses an der Mode in | |
das Haus „Sonia Rykiel“ eingestiegen und haben frischen Wind reingebracht. | |
War es für Ihre Mutter schwer, ein Stück Verantwortung abzugeben? | |
Ich denke, es war nicht ganz einfach für sie. Vor allem, als man anfing, | |
sich für mich zu interessieren und meinen Namen mit dem Haus zu | |
assoziieren. Aber sie freute sich über meine Ideen. Sie konnte sich | |
überhaupt über nichts mehr freuen als über gute Ideen. Das war herrlich. | |
Wir versuchten immer, uns gegenseitig zu beeindrucken. | |
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Sie Ihrer an Parkinson erkrankten Mutter | |
erklären müssen, dass sie nach den Modenschauen nicht mehr auf die Bühne | |
gehen kann. Das muss schwer gewesen sein. | |
Ja, ich glaube, das war einer der schlimmsten Momente. Als sie mich wütend | |
und hilflos ansah und fragte: „Heißt das, du gehst alleine raus?“ Das | |
Problem war, dass meine Mutter eben eine Künstlerin war. Sie hätte bis zum | |
Ende weitermacht. Selbst wenn das bedeutet hätte, alles zu zerstören, was | |
sie in ihrem Leben aufgebaut hat. | |
Weil das Bild dieser kranken, gebrechlichen Frau mit dem Bild der starken | |
Frau von „Rykiel“ nicht mehr vereinbar war? | |
Richtig. Sie wissen ja, wie die Mode ist: Man mag das | |
Heruntergekommen-Aussehen, aber verabscheut das Heruntergekommen-Sein. Und | |
meine Mutter war wirklich sehr krank. | |
Sie haben ihr Grenzen auferlegt wie einem Kind. Irgendwann hat sie auch | |
begonnen, Sie Maman zu nennen. War das ein Schock für Sie? | |
Als ich verstand, dass sie damit mich meint: Ja. Kurz. Meine Mutter war | |
eine so starke, so unabhängige Frau. Für mich war sie unbesiegbar. Und | |
plötzlich war sie mein Kind. Das war komisch, dann aber auch ganz schnell | |
sehr normal und schön. Weil sie sich damit in meine Obhut begeben hat. | |
Sie beschreiben eine Szene, in der sie eine Psychotherapeutin terrorisiert. | |
Es ist nicht lustig, für Sie war es sicher schrecklich, aber ich musste | |
sehr lachen. | |
Oh doch! Natürlich ist das lustig! Wäre es nicht so traurig gewesen, hätte | |
ich mich auch kaputtgelacht. Damals hätte ich sie allerdings erwürgen | |
können. Ich hatte wochenlang nach einer Therapeutin gesucht, damit sie | |
jemanden hat, mit dem sie über ihre Ängste sprechen kann. Ich hatte Maman | |
vorbereitet, ihr erklärt, da kommt jemand, und dann komme ich mit dieser | |
Dame an und sie tut, als wüsste sie von nichts. Sie sagt zur Frau: „Laufen | |
Sie!“ Ich sage: „Maman, das ist kein Model!“ Sie weiter: „Laufen Sie!�… | |
Therapeutin macht das dann auch noch, eben weil meine Mutter, selbst in dem | |
Zustand, sehr beeindruckend war. Sie läuft durch das riesige Wohnzimmer, | |
hin und her, bis Maman sagt: „Danke ich habe alles gesehen.“ Die Frau | |
fragt: „Was haben Sie denn gesehen?“ Meine Mutter: „Das werde ich Ihnen | |
ganz sicher nicht sagen.“ Es war schrecklich. Und natürlich zum Schreien | |
komisch. | |
Sie war auch eifersüchtig. Etwa auf Ihr schriftstellerisches Talent. | |
Ich weiß gar nicht, ob es wirklich Eifersucht war, aber ja, sie sagte mir | |
nach der Lektüre meines ersten Manuskripts: „Ich finde es ganz toll. Nur | |
eine Sache stört mich.“ Welche denn, fragte ich sie. „Dass du besser | |
schreibst als ich!“ | |
Die Literatur war sehr wichtig für Ihre Mutter. Schon in ihrem ersten Laden | |
waren Bücher neben den Kleidern ausgestellt. Sie hat als erste Slogans auf | |
ihre Pullis gedruckt. Wissen Sie, weshalb? | |
Das Wort war essenziell für sie. Manchmal, wenn wir eine neue Kollektion | |
besprachen, sagte sie: „Hast du auch so große Lust auf Worte?“ Sie liebte | |
die Literatur. Das mit den Slogans hat glaube ich damit zu tun, dass sie | |
ihren ersten Laden im Mai 68 eröffnete. Sie hat damals vieles von den | |
Plakaten übernommen. Etwa „Black is beautiful“. | |
Würden Sie denn sagen, die Mode Ihrer Mutter war politisch? | |
Nein. Sie war keine Aktivistin. Aber sie interessierte sich sehr für das | |
Leben der Leute. Vor allem das der Frauen. Ihre Mode passte sich an die | |
Frau, die sich damals abzeichnete, an. Eine Frau in Bewegung, eine Frau, | |
die weiblich und frei und neugierig ist. | |
Sie haben das Modehaus „Sonia Rykiel“ vor ein paar Jahren verkauft. War das | |
schon immer der Plan? | |
Nein, natürlich nicht. Ich dachte, ich gebe dieses Haus an meine Töchter | |
weiter und die an ihre und so weiter. Aber die Realität ist eben eine | |
andere. Die Welt hat sich in den letzten Jahren so dramatisch geändert, da | |
ist es finanziell einfach nicht möglich, ein Modehaus als | |
Familienunternehmen zu halten. So ist es nun mal. | |
Auf der Beerdigung Ihrer Mutter haben Sie gesagt, ihre Tochter zu sein sei | |
das große Abenteuer Ihres Lebens gewesen. Würden Sie also alles genau so | |
wieder machen? | |
Wenn ich die Wahl hätte, ja. So schwer es auch manchmal war – und das war | |
es. So sehr bin ich davon überzeugt, dass ich mit dieser Beziehung etwas | |
absolut Einmaliges habe erleben dürfen. Dafür bin ich ihr unendlich | |
dankbar. | |
22 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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