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# taz.de -- Ausnahmezustand im Kurdengebiet: Am Abgrund sitzen
> Lehrer suspendiert, Frauenorganisationen dicht gemacht, Kommunen
> zwangsverwaltet: Wie der türkische Staat die Kurden unterdrückt.
Bild: Die Zerstörung sichten: Sur in Diyarbakir, Mai 2016
Manchmal kommt uns die Welt, in der wir leben, so vor, wie ein für Krieger
programmiertes Spiel. Und im Augenblick scheint in diesem Spiel der
rassistische und despotische Staat dem Volk einen Schritt voraus zu sein.
2013 in der mitunter von PKK-Chef Abdullah Öcalan geführten „Friedensphase�…
konnte bei den täglich eintreffenden Todesnachrichten ein erheblicher
Rückgang verzeichnet werden. In dieser Periode war die kurdische Sprache
befreit worden, es gab mehr Jobs für Kurden und Meinungen konnten
problemlos geäußert werden.
Die Parteien hatten die Freiheit, Kundgebungen zu organisieren, und ihre
Propagandazwecke zu verfolgen. Deshalb war das Ergebnis der
Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 eigentlich nicht überraschend. Mit 13
Prozent der Wählerstimmen war die prokurdische HDP zum Dolmetscher der
Emotionen von Millionen Menschen geworden.
Infolge des Ergebnisses dieser Wahlen wurde die Friedensperiode von der AKP
und dem damaligen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan „auf Eis“ gelegt.
Die Forderungen der Bevölkerung nach Demokratie und Frieden fanden kein
Gehör, es setzten brutale Aggressionen gegen die Bevölkerung ein. In den
vergangenen 2 Jahren kamen bei Sprengstoffexplosionen, in Gefechten und
unter Ausgangssperren fast zweitausend Menschen ums Leben.
## Wer Frieden einfordert, wird zur Zielscheibe erklärt
Allen Aufrufen der HDP zum Trotz zog die AKP-Regierung es vor, Krieg zu
führen. Dutzende Journalisten, HDP- und DBP-Mitglieder (DBP ist die lokale
„Schwesterpartei“ der HDP, Anm.d.Red.) wurden verhaftet. Wer Frieden und
Demokratie einforderte, wurde zur Zielscheibe erklärt.
Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 – unter Federführung des
islamischen Predigers Fethullah Gülen – wurden nicht nur Operationen gegen
die Mitglieder der mutmaßlichen Gülen-Terror-Organisation (FETÖ)
eingeleitet. Unter dem Vorwand, im Land herrsche keine „friedliche
Atmosphäre“, wurde zusätzlich der Ausnahmezustand verhängt. Erst nur für
drei Monate. Doch in der Folge wurde er zweimal verlängert.
Was der Ausnahmezustand bedeutet, das wissen die Kurden am besten. In den
Zeiten des Ausnahmezustands in den 1990ern wurden Tausende Kurden ermordet
oder aus ihren Regionen vertrieben. Deshalb waren es vor allem auch jetzt
die Kurden, die sich gegen den Ausnahmezustand wehrten.
Im Rahmen der Operationen gegen die Gülenisten wurden per Dekret Tausende
Lehrer, vor allem Mitglieder der Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen, vom
Dienst suspendiert. Tausende Vereine und Organisationen wurden geschlossen,
die Mehrheit der oppositionellen Zeitungen wurde verboten, die
Presseausweise von Hunderten Journalisten ungültig gemacht.
Dutzende von ihnen verhaftet. Hunderte Politiker, darunter die
Ko-Vorsitzenden der HDP, wurden inhaftiert. Und in insgesamt 51 Kommunen,
die bei den Regionalwahlen vom 30. März 2014 die DBP gewählt hatten, wurden
Zwangsverwalter eingesetzt.
## Das größte Problem: Arbeitslosigkeit
Hunderte städtische Angestellte verloren aufgrund der Zwangsverwaltung ihre
Jobs, was wiederum die Arbeitslosigkeit, das größte Problem des kurdischen
Volkes, erneut verschärfte. Die Zwangsverwalter beließen es nicht dabei,
Angestellte zu entlassen. Sie setzten auch alle von den Kommunen zuvor
durchgeführten Projekte ab.
Frauenorganisationen wurden geschlossen, die Namen Dutzender dort
registrierter Frauen publik gemacht. Dabei handelt es sich um Frauen und
Kinder mit Gewalterfahrungen, die belästigt, vergewaltigt oder von ihren
Familien bedroht worden waren. Jene Frauen wiederum, die sich um die
Sicherheit dieser Personen kümmerten, wurden entlassen.
Die Zwangsverwalter stoppten sämtliche kulturellen und künstlerischen
Aktivitäten der Kommunen und ließen von den Stadtverwaltungen zuvor
aufgestellte Statuen und Denkmäler entfernen. Es wurden Barrikaden zwischen
Rathäusern und Bevölkerung errichtet und sämtliche Rathäuser in
Polizeireviere verwandelt. Die Stadtverwaltungen, deren Aufgabe es ist, der
Bevölkerung zu dienen, dienen inzwischen nur noch dem Staat und der
Polizei.
Die Kurden ähneln Vögeln ohne Flügel, die an einem Abgrund sitzen und
warten. Doch wenn sie fliegen müssen, erschaffen sie sich Flügel und
überwinden alle Abgründe. Aus diesem Grund irrten jene gewaltig, die
dachten, mit der Verhaftung der HDP-Abgeordneten das Volk einschüchtern zu
können.
Das Volk wich keinen Schritt zurück, sondern sagte: „Wir wehren uns, unsere
gewählten Vertreter im Kerker, wir auf den Plätzen“, und zeigte, dass es
nicht kapitulieren wird. Auch wenn der Staat versuchte, die Menschen mit
Unterbrechungen von Internet und Stromnetz zum Schweigen zu bringen, war
das Volk weiter auf den Plätzen.
## Muttersprachen-Unterricht geht zu Hause weiter
Es wurde eine Kampagne mit dem Titel „Wir erkennen Zwangsverwalter nicht
an“ gestartet, kulturelle Aktivitäten finden nun auf der Straße statt. Da
per Dekret Schulen mit muttersprachlichem Unterricht geschlossen wurden,
setzen die Familien den Unterricht ihrer Kinder zu Hause fort.
In der Folge hat das kurdische Volk eine extrem schmerzhafte Phase
durchgemacht. In unseren Gesprächen, die wir in verschiedenen
Nachbarschaften von Diyarbakır geführt haben, sahen wir, dass die Menschen
sich vor allem wünschen, dass die von ihnen gewählten Bürgermeister in ihre
Ämter zurückkehren und der Ausnahmezustand so schnell wie möglich beendet
wird.
Die Menschen protestieren gegen die Gefechte und den Krieg, sie sagen, das
kurdische Volk werde seit vielen Jahren unterdrückt, seine Rechte werden
missachtet, Bildung in der Muttersprache finde nicht statt. Diesbezüglich
fordern sie nur dieselben Rechte ein, über die auch das türkische Volk
verfüge, und die eigene Kultur und Geschichte frei leben zu können.
Die Kurden sagen, der Tod vernichte beide Seiten und bringe für niemanden
einen Gewinn. Wir hören von den Menschen, dass es sich bei der Einsetzung
von Zwangsverwaltern und der Schließung von Vereinen um Übergriffe handelt,
die auf die Vernichtung des kurdischen Volkes abzielen. Das kurdische Volk
äußert deutlich, dass es die Verfassungsänderung und das Präsidialsystem
nicht akzeptieren wird, seine Forderung dagegen ist klar: ihre Wünsche nach
Gleichberechtigung sollen verfassungsrechtlich abgesichert werden.
Übersetzt aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.
23 Jan 2017
## AUTOREN
Beritan Canözer
## TAGS
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Kurden
Frauen
Schwerpunkt Türkei
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