# taz.de -- Architektur von Stuttgart 21: Ritterburg mit Gleisanschluss | |
> Der Architekt Paul Bonatz hat einen funktionalen und umstrittenen Bahnhof | |
> in Stuttgart hinterlassen. Was ist dran am Gegenbild zur kühlen Neuen | |
> Sachlichkeit? | |
Bild: In letzter Zeit sehr gut besucht: Hauptbahnhof in Stuttgart. | |
"Umbilicus sueviae", als "Nabel Schwabens", bezeichnete der Architekt Paul | |
Bonatz einmal seinen Entwurf (gemeinsam mit Friedrich Eugen Scholer) | |
1910/11 für den Stuttgarter Hauptbahnhof. Das Bild von der | |
überlebensnotwendigen Versorgungsbahn, durch die die Energie für eine ganze | |
Region fließt, bemühen ironischerweise heute die Befürworter des Projekts | |
"Stuttgart 21" erneut. Mit dem Umbau des Kopfbahnhofs aus den Jahren 1914 | |
bis 1928 zu einer unterirdisch verlegten Durchgangsstation erhalte der | |
Südwesten der Republik wesentliche Impulse für neues Wachstum und | |
gesteigerte Mobilität, argumentiert etwa Baden-Württembergs Landeschef | |
Stefan Mappus. Stuttgart funktioniert als Nabel der Welt nur per Durchzug. | |
Folgt die herrische Rhetorik des Ministerpräsidenten zweifelhaften | |
Begehrlichkeiten, so war jene von Bonatz noch sinnfällig. Wegen des immer | |
stärkeren Verkehrsaufkommens auf der Schiene war der alte Haltepunkt in | |
Stuttgart ab 1900 zu klein geworden. Zudem verlangte der beschleunigte | |
Austausch von Menschen, Waren und Gütern zwischen Stadt und Region nach | |
einer städtebaulich veränderten Anbindung des Bahnhofs an die Stadtmitte. | |
Bonatz Idee eines Kopfbahnhofs an der innerstädtischen Hauptachse | |
Stuttgarts, der Königstraße, zielte auf diese Bedürfnisse. Ein hoch | |
funktionaler Nabel Schwabens entstand. Die urbane Integration des riesigen, | |
zweiflügeligen Gebäudes und seine räumliche Struktur machten aus dem | |
Standort einen energiegeladenen Umschlagsplatz. Stuttgart war hier Anfang | |
und Ende zugleich. Um die innere Nutzung zu entflechten, baute Bonatz eine | |
zentrale Querbahnsteighalle, daneben zwei große Torbauten mit hohen, | |
gewölbeartigen Schalterhallen als Zugänge zu den 16 Fern- beziehungsweise | |
Nahverkehrsgleisen. Tunnel unter den Bahnsteigen erleichterten das | |
Umsteigen. | |
Nazidesign avant la lettre? | |
Neu in der Bahnhofstypologie war auch die Multifunktionalität. Der Bahnhof | |
diente zugleich als Postamt, hatte Büros, Expressschalter, ein Restaurant, | |
Läden - und einen Warteraum für den Kaiser. Den asymmetrisch platzierten | |
Turm verstand Bonatz als Landmarke, als dominantes Zeichen des Bahnhofs und | |
seiner Rolle als Stadtkrone. | |
Für die Delegitimierung dieser Funktionalität und deren zukünftiger | |
Nutzbarkeit dient den Stuttgart-21-Fans nicht nur Tony Garniers | |
idealtypisches Bahnhofsprojekt von 1904, wonach nur mit einem ober- und | |
unterirdischen Kreuzungsbahnhof die Vision von Schnelligkeit aufgeht. | |
Bonatz denkmalgeschützter Kopfbahnhof muss sich auch Carroll Meeks | |
zweifelhaften Vorwurf als "Nazidesign avant la lettre" gefallen lassen. | |
Es gehört zu den beliebten Strategien, ein Werk zu beschädigen, indem man | |
den Autor vorführt. Im Falle Paul Bonatz und seiner Gegner greift dies umso | |
leichter, baute jener nicht nur schwer und monumental, er paktierte auch | |
mit den Nazis. Seine Befürworter machen sich zudem verdächtig, wenn sie das | |
steinerne Monstrum in Stuttgart als "vormoderne" Kathedrale des | |
Eisenbahnverkehrs verklären. | |
Paul Bonatz, 1877 geboren und nach dem Studium Architekt sowie ab 1908 | |
Hochschullehrer in Stuttgart, verdankt seinen Ruhm einer stramm | |
konservativen Architektursprache und ebensolcher Leitbilder. Handwerkliche | |
Tradition, Holz und Naturstein als Material, Ordnung, Strenge, Proportion | |
bildeten das Gerüst seines Denkens. | |
Bonatz war einer der am meisten beschäftigten Architekten der 20er und 30er | |
Jahre. Zwischen 1921 bis 1926 realisierte er geduckte Villen für | |
Unternehmer, Bankiers und Politiker. Es folgten wuchtige Staustufen bei der | |
Neckar-Kanalisierung (1926 bis 1928) sowie Sportstadien und Brückenbauwerke | |
der Nazis: darunter die Adolf-Hitler-Kampfbahn in Stuttgart (1933) oder das | |
kolossale Autobahnviadukt über die Lahn bei Limburg (1937). | |
Bonatz war Gründungsmitglied der konservativen Architektenvereinigung "Der | |
Block" und Widersacher des "Neuen Bauens". Als Mies van der Rohe 1927 die | |
Stuttgarter Weißenhofsiedlung, eine Architekturikone der klassischen | |
Moderne, mitplante, zog er den Zorn von Bonatz auf sich. Nach | |
Auseinandersetzungen mit Hitler und Speer über die Dimensionen des neuen | |
Münchner Großbahnhofs verließ Bonatz 1943 Deutschland in Richtung Türkei. | |
1956 starb er in Stuttgart. | |
Gegen Neue Sachlichkeit | |
Sicher, Bonatz hat auch Architekturen in einer leichteren Form des | |
Neoklassizismus errichtet - etwa das Kunstmuseum Basel (1936) oder den | |
Umbau für das Opernhaus in Ankara (1948). Auch seine Lehrtätigkeit gilt als | |
legendär und liberal. Prägend für den Architekten Bonatz aber bleiben | |
zeitlebens die Parameter einer Handschrift, die er schon beim "Nabel | |
Schwabens" 1911 entwickelte. | |
Während die Bahnhofsneubauten in London, Paris, Berlin oder Lissabon | |
allmählich ihre historischen Zitate und Ornamente ablegten und die | |
Architekten der Vormoderne - darunter Poelzig, Behrens oder der junge | |
Gropius - immer mehr mit Eisen, Stahl, Glas, Beton und sichtbaren | |
Konstruktionen arbeiteten, erstarrte Bonatz baulich und realisierte | |
augenscheinliche Gegenbilder zur kühlen Neuen Sachlichkeit. | |
Der Einheit von Form und Funktion, wie Karl Ernst Osthaus dies für Bahnhöfe | |
im Werkbund-Jahrbuch bereits 1914 forderte, widerspricht Bonatz Hauptwerk | |
im Besonderen. Zwar schreibt er einmal von dem Verbot "alter Stilformen" | |
und einem neuem "Rhythmus", der am Bahnhof einziehen sollte. Doch gegenüber | |
den baulichen Zeichen der neuen Zeit, etwa glatten Fassaden, schlanken | |
Profilen, Horizontalen, Glas, Stahl, Licht und räumlicher Dynamik, bleibt | |
er resistent. Sein Bahnhof erhebt sich wie eine mit Kalkstein verhüllte | |
schwergewichtige Burg, eine Pathosformel des Antimodernen. | |
Ein "Vormoderner", wie die Freunde des Bahnhofs es sich wünschen, war | |
Bonatz nicht. Die Bedeutung seiner Architektur sticht im Streit gegen | |
Stuttgart 21 wenig. Doch das berechtigt noch lange nicht zum Abriss von | |
Teilen des Denkmals und Stuttgarter Wahrzeichens. Im Gegenteil. Der | |
Architekturkritiker Dieter Bartetzko hat in einem Ausstellungsbeitrag | |
einmal eine treffende Analyse des "versteinerten Funktionalismus" dieses | |
Bahnhofs geliefert: "Fertiggestellt wurde ein beeindruckendes compositum | |
mixtum aus Romanik und Grobklassizismus, Bruchstein und Pfeilerkolonnen, | |
altägyptischem und germanischem Flair." | |
Bonatz Bahnhof sei eher ein anachronistisches Unikum. Es stehe zwischen der | |
zutiefst konservativen Architektursprache vor 1900 einerseits und einer | |
neuen funktionalen, städtebaulichen Dimension des Bahnhofs andererseits. | |
27 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Rolf Lautenschläger | |
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