| # taz.de -- 25 Jahre 1. Mai in Kreuzberg (Teil 1): "Ohne Polizei wäre der Tag … | |
| > 1987 brannte ein "Bolle"- Supermarkt. Seitdem kommt es jedes Jahr zu | |
| > Auseinandersetzungen zwischen Protestierern und Polizei. Ein Autonomer | |
| > zieht Bilanz. | |
| Bild: Gegen den Kapitalismus geht's am 1. Mai schon seit 25 Jahren. | |
| taz: Herr Lorenz, wann war Ihr erster 1. Mai? | |
| Marco Lorenz: Kannst mich ruhig duzen. Also 2000 war das, da war ich 15. | |
| Seitdem war ich fast immer dabei. | |
| Was ist deine erste Assoziation zu diesem Tag? | |
| Eine machtvolle Demonstration gegen den Kapitalismus. Und ein großer | |
| Arbeiterkampftag, verbunden mit sozialistischen und kommunistischen Ideen. | |
| Und welches Bild hast du vom 1. Mai 1987? | |
| Den kenn ich nur von Fotos und Filmen. Meine Vorstellung ist ein Moment von | |
| Kreuzberg in den Händen von Kreuzbergern. Sich nichts von der Obrigkeit | |
| gefallen lassen, sich den Bezirk zu nehmen, in dem man wohnt, ohne sich mit | |
| der ganzen alltäglichen Repression abfinden zu müssen. | |
| Wie sehr ähneln sich diese beiden Bilder heute? | |
| Ich glaube, die Ideen sind ähnliche. Damals ging es auch darum, sich aus | |
| einem Alltagsdruck, einem kapitalistisch bedingten, zu befreien. 1987 war | |
| dafür ganz Kreuzberg auf den Beinen. Heute hat das eben die Form einer | |
| Demonstration angenommen. | |
| Ganz Kreuzberg tummelt sich heute lieber auf dem Myfest. | |
| Das ist aber nichts, wo sich der Bezirk selbst verwirklicht. Bis auf | |
| einzelne Bühnen, auf denen sich linke Initiativen einbringen, wird das doch | |
| kommerziell durchgeplant - von oben herab, mit Mitteln des Senats. Ein | |
| Befriedungsfest unter der Kontrolle von Ordnern und Bullen. Das ist nichts, | |
| wofür wir einstehen. | |
| Aber es lockt die Leute an. | |
| Ach was! Die Leute wollen am 1. Mai grundsätzlichere Fragen stellen, | |
| abseits von sonem sozialdemokratischen Mainstream. Als es vor ein paar | |
| Jahren den Mayday gab, da konnten sich die Menschen entscheiden, wo sie | |
| hingehen - und die meisten haben sich für die 18-Uhr-Demonstration | |
| entschieden. | |
| Ist es nicht der Action-Faktor, der zieht? | |
| In der Masse nicht, vielleicht bei einigen Leuten. Aber das sagt ja auch | |
| schon wieder was: darüber, welchen Ausdruck man nach außen sucht. Offenbar | |
| hat es einige Attraktivität, nicht hin und her zu lavieren wie der Mayday | |
| oder der DGB, sondern einen klaren Standpunkt zu beziehen, klar | |
| antagonistisch zum System. | |
| Welchen 1. Mai empfandst du als den gelungensten? | |
| Mhm. Also letztes Jahr fand ich sehr gut, da hatte die Demonstration einen | |
| sehr starken politischen Ausdruck, die ganze Frage der | |
| Stadtumstrukturierung, und viele verschiedene Leute kamen. 2002, mit dem | |
| Walpurgnisnachtkonzert auf dem Oranienplatz, war auch nicht schlecht. Und | |
| natürlich 2009, da war die Demonstration sehr entschlossen und sehr | |
| kraftvoll. | |
| Damals flogen schon nach wenigen Metern Steine. Die Polizei verzeichnete | |
| 273 verletzte Beamte und 289 Festnahmen. | |
| Man sollte das jetzt nicht auf die Riots verkürzen. Auch das war ja ein | |
| Ausdruck einer Demonstration, die sehr politisch war. Für mich war 2009 der | |
| Punkt, wo sich der revolutionäre 1. Mai sehr kraftvoll zurückgemeldet hat. | |
| Damals waren alle über die Gewalt überrascht. Du auch? | |
| Nicht wirklich, das hatte sich abgezeichnet. Mit den G-8-Protesten 2007 ist | |
| eine jüngere Generation entstanden, die anlassbezogener und wieder | |
| offensiver ihren politischen Ausdruck sucht. Und der hat sich etwa | |
| wiedergefunden bei den revolutionären 1.-Mai-Protesten oder bei der Räumung | |
| des Hausprojekts Liebig 14 in Friedrichshain. | |
| Und welcher war der schlechteste 1. Mai? | |
| Jene, an denen es keine Demonstrationen gab, so wie 2005 und 2006. Da | |
| fehlten die politischen Inhalte. 2004 war auch nicht so doll: Erst die | |
| Mobilisierung nach Friedrichshain gegen den Nazi-Aufmarsch und dann die | |
| Demo vom Potsdamer Platz losgehen zu lassen - das ist sehr unglücklich | |
| gelaufen, vielleicht war es sogar eine Fehlkalkulation. | |
| Die diesjährige Demo-Route führt zum Bebelplatz in Mitte: der gleiche | |
| Fehler noch mal? | |
| Ich finde es total berechtigt, was Neues auszuprobieren. Und in Mitte kann | |
| man natürlich ganz andere Sachen thematisieren als in Kreuzberg oder | |
| Neukölln. | |
| Was ist für dich ein Polizist? | |
| Der Polizist ist einfach nur dazu da, um die kapitalistische Ordnung | |
| aufrechtzuerhalten. Dafür wird er bezahlt, dafür hat er sich bewusst | |
| entschieden. Denn er hat ja immer noch die freie Wahl, ob er diese Arbeit | |
| macht oder nicht. Und da muss man sich schon fragen, was für Charaktere das | |
| anzieht. Ich würde mal behaupten, dass das Menschen sind, die gerne | |
| Autoritäten glauben und keine Hemmungen haben, auch Gewalt anzuwenden, um | |
| den Willen ihres Herrn durchzusetzen. | |
| Also ein klares Feindbild Polizei? | |
| Ich bin überzeugt: Wenn es keine Polizei gäbe, würde der 1. Mai friedlich | |
| sein und nicht so reduziert auf die Gewaltfrage. | |
| In den letzten Jahren hat sich die Polizei mit ihrer Deeskalationsstrategie | |
| weit zurückgezogen. | |
| Man kann den 1. Mai natürlich nicht vom ganzen Jahr trennen. Die Polizei | |
| müsste sich eigentlich das ganze Jahr über zurückziehen. Die Realität sieht | |
| aber anders aus: Man muss sich nur mal die Opferstatistiken durchlesen, was | |
| rassistische Polizeiübergriffe angeht. Also ich kann gut nachvollziehen, | |
| wenn sich bei Leuten, die tagtäglich von Polizei, Ämtern und Schule | |
| kontrolliert werden, ihre Wut irgendwann entlädt. | |
| Was ist dein Selbstbild als Autonomer? | |
| Ich würde mich eher einen radikalen Linken nennen. Klar antikapitalistisch, | |
| antimilitaristisch, antifaschistisch, internationalistisch. Entscheidend | |
| ist für mich die Frage, wie wir eine befreite Gesellschaft erreichen | |
| können. Und das sehe ich in einer Organisation von Menschen, die klare | |
| politische Ziele verfolgt, aber auch ansprechbar ist. Also eher nicht so | |
| der autonome Kleingruppenstil. | |
| Mit was für Gefühlen gehst du in den 1. Mai? | |
| Keinen speziellen. Vielleicht einer Mischung aus Vorfreude und arbeitsamer | |
| Unruhe. Es gibt ja bis zum Tag selbst noch allerhand zu tun. | |
| Freust du dich auf den Tag? | |
| Ich freu mich jedes Jahr auf den 1. Mai - nicht nur auf die Demo, sondern | |
| auf den ganzen Tag. Der 1. Mai bleibt für mich einfach der linke Tag im | |
| Jahr. | |
| Was ist der kitzligste Moment am 1. Mai? | |
| Wenn die Demonstration sich formiert und loszieht. Wenn man merkt: Das ist | |
| etwas Kraftvolles, das nach außen wirkt. | |
| Entwickelst du am 1. Mai ein Jagdfieber? | |
| (lacht) Ich habe keinerlei Jagdfieber, ich habe nur politische Anliegen. | |
| Ich glaube, dass es bei der Polizei ein Jagdfieber gibt, weil über | |
| Jahrzehnte ein linkes Feindbild tradiert wurde. Uns gehts nicht darum, | |
| Bullen herumzujagen, sondern eine Demonstration zu schützen und einen | |
| politischen Raum herzustellen. | |
| Hast du selbst schon mal einen Stein oder eine Flasche geworfen? | |
| Die Polizei hat natürlich in den letzten Jahren sehr viele Erfahrungen am | |
| 1. Mai gesammelt, und da ist es immer eine Frage der Repression, ob es | |
| sinnvoll ist, Steine zu werfen. Ich kanns gut nachvollziehen, wenn Leute | |
| ihre Wut gegen Banken oder Jobcenter ausdrücken. Aber das muss jeder | |
| Einzelne in seiner Bezugsgruppe klären. Mir gehts persönlich um einen | |
| starken politischen Ausdruck. | |
| Und bist du schon mal einem Genossen in den Arm gefallen? | |
| Es ist nicht meine Aufgabe, die Wut von Leuten zu regulieren. Aber wenn | |
| Aktionen anfangen, die Demo zu gefährden, ist das natürlich abzulehnen. | |
| Welche Erwartung hast du an den diesjährigen 1. Mai? | |
| Ich erwarte eine sehr große Demonstration - diesmal könnte sie durch die | |
| europäischen Kämpfe und die ganze Krisensituation noch mehr Leute anziehen. | |
| Besonders in einer Situation, die wir heute haben, wo die BRD wieder als | |
| imperialistische Großmacht auftritt. | |
| Und bezüglich der Militanz? | |
| Die Frage ist natürlich, inwieweit Innensenator Henkel und die Polizei | |
| weiter das Demonstrationsrecht einschränken wollen. Wenn da auf unserer | |
| Route dem reaktionären Drecksblatt Bild einfach der Vorzug gegeben wird, | |
| muss man sich fragen, ob das mit dem Recht auf Demonstrationsfreiheit | |
| vereinbar ist. Aber es zeigt, auf wessen Seite der schwarz-rote Senat | |
| steht. | |
| Die Frage bezog sich eher auf deine Seite: Hast du inzwischen ein | |
| Bauchgefühl, wie der 1. Mai verlaufen wird? | |
| Ein bisschen schon. Es gibt ja Faktoren: Was sind die Themen, wie wird | |
| mobilisiert, wie liegt der 1. Mai? Und da sieht es dieses Jahr nicht | |
| schlecht aus. Da wird in einer Breite mobilisiert wie 2009. Und es gibt | |
| auch eine allgemeine Wut über die herrschenden Zustände. Vor ein paar | |
| Wochen wurde ein Mann verurteilt, der 100 Autos angezündet haben soll. Der | |
| war aus keiner linken Szene, sondern direkt Betroffener. Die Menschen | |
| reagieren auf die Verhältnisse, egal ob sie Linke sind oder nicht. | |
| Also wirds wieder knallen? | |
| Das wird der Tag zeigen. | |
| 1 May 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
| Konrad Litschko | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
| Tag der Arbeit, Tag der Proteste | |
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