# taz.de -- 25 Jahre 1. Mai in Kreuzberg (Teil 2): "Der Spaßfaktor ist die Pol… | |
> 1987 brannte ein "Bolle"- Supermarkt. Seitdem kommt es jedes Jahr zu | |
> Auseinandersetzungen zwischen Protestierern und Polizei. Ein Polizist | |
> zieht Bilanz. | |
Bild: Am 1. Mai immer mit dabei: die Polizei und verschiedene Wurfgeschosse. | |
taz: Herr Müller, wann war Ihr erster 1.-Mai-Einsatz? | |
Franz Müller: 1989. Das zweite Jahr, nachdem die Ausschreitungen | |
losgegangen waren. | |
Was ist Ihre erste Assoziation zu diesem Tag? | |
Das ist ein Tag, den ich mit Gewalttätigkeiten verbinde. Es ist immer ein | |
sehr, sehr einsatzintensiver Tag. Der fängt ganz früh an und hört ganz spät | |
auf. Und je älter man wird, um so erschöpfter ist man danach. | |
Hatten Sie bei Ihrem ersten Einsatz Angst? | |
Das waren schon bemerkenswerte Eindrücke. Man ist neu und orientiert sich | |
an den älteren Kollegen. Was heißt ältere - an denen, die das schon mal | |
erlebt haben. Da wurden gezielte Angriffe auf die Polizei verübt. Wir | |
bekamen dann den Oberkörpervollschutz aus dem Eishockeybereich, um uns | |
besser schützen zu können. | |
Was ist Ihnen noch in Erinnerung geblieben? | |
Unser System war noch nicht so entwickelt, dass wir professionell | |
Festnahmen machen konnten. Das war eher die Zeit der Konfrontation, wo man | |
sich eigentlich hasserfüllt gegenüberstand. Die Gegenseite hat es ja | |
vorgegeben. | |
Mit Gegenseite meinen Sie die Autonomen? | |
Ob das damals Autonome waren, kann ich nicht sagen. Da waren ganz, ganz | |
viele politische Richtungen mit bei. Wenn wir in Gruppen zu 20 oder 30 | |
Polizisten unterwegs waren, haben die sich der Konfrontation sofort | |
gestellt. Man hat Pflastersteine und ganze Gehwegplatten gegen uns | |
eingesetzt. Das hatte Ebenen, wo man das Gefühl hatte, es wird einem nach | |
dem Leben getrachtet. | |
Wie viele 1.-Mai-Einsätze haben Sie seither mitgemacht? | |
Seit 1989 habe ich nur zweimal gefehlt. | |
Wie gehen Sie mittlerweile in so einen Einsatz? | |
Man versucht, erheblich zu trainieren, um körperlich fit zu sein. Man | |
spricht sich taktisch ab und übt das Verhalten in Grenzsituationen. | |
Inzwischen haben wir uns ja sehr spezialisiert, wir haben pfiffige und | |
professionelle Konzepte entwickelt, auch was das Ergreifen von Straftätern | |
angeht. Das gilt ja nicht nur für den 1. Mai, sondern auch für Einsätze bei | |
bestimmten Fußballspielen. | |
Freut man sich auf den Einsatz am 1. Mai? | |
Das ist Alterssache. Die jüngeren Kollegen, denk ich mal, freuen sich | |
schon. | |
Worauf genau? | |
Bei den Einsätzen ist man in größeren Gruppen unterwegs. Das schweißt | |
zusammen. | |
Daraus erwächst dann der berüchtigte Korpsgeist. | |
Korpsgeist würde ich dazu nicht sagen. Das ist eine Art Teamfindung. Man | |
muss sich blind auf den anderen verlassen können. Da darf nichts | |
schiefgehen. Das ist eine Herausforderung. Das mag jetzt komisch klingen, | |
aber das macht in Teilbereichen auch Spaß. Verstehen Sie das nicht falsch: | |
Keiner hat Spaß daran, sich den Gewaltaktionen auszusetzen. In manchen | |
Jahren hatten wir ja eine Vielzahl von Verletzten. Da sind Schicksale | |
dabei, die sind nicht schön. Das geht über Knochenbrüche bis dazu, dass | |
Kollegen in Pension gegangen sind, weil sie so vermöbelt wurden, dass sie | |
das nicht verkraftet haben. Das sind Einzelfälle, aber das kann jeden | |
treffen. | |
Wie erklären Sie sich, dass die Polizei immer zur Zielscheibe wird? | |
Wir sind am 1. Mai der Spaßfaktor. Wir werden von allen Seiten befeuert. | |
Was empfindet man denn dabei? | |
In der Oranienstraße sind wir mal stundenlang mit Wurfgeschossen eingedeckt | |
worden. Da wird man natürlich sauer. Ganz massiv sogar. Zum Schluss wird | |
dann noch der ganze Müll auf die Straße gefeuert. Dann gibt es noch | |
etliche, die meinen, sie müssten das anzünden. Da braucht man nicht reden. | |
Das geht da rein und da wieder raus. (Zeigt erst auf sein rechtes, dann auf | |
sein linkes Ohr). Da hat man dann schon 18 Stunden Dienst hinter sich. Und | |
irgendwann steht es einem bis hier (deutet einen Wasserstand auf Kinnhöhe | |
an). | |
Was passiert dann? | |
Irgendwann hat man mental eine bestimmte Belastungsgrenze erreicht. Das | |
wird von Bürgern, Politik und Polizeiführung unterschätzt. Die sind ja | |
immer sehr entsetzt über irgendwelche Überreaktionen. | |
Entwickelt man eine Art Jagdfieber? | |
Auf jeden Fall. Es wäre falsch, wenn ich etwas anderes sagen würde. Wenn | |
wir jemanden Steine schmeißen sehen, wollen wir den haben. Wir beobachten | |
ihn dann so lange, bis der Zugriff erfolgt. Zu 90 Prozent klappt das, wenn | |
unsere Kette sauber funktoniert. | |
Es gibt Beamte, die an Festgenommenen ihr Mütchen kühlen. | |
Wenn jemand um sich schlägt, muss man körperlichen Zwang anwenden. | |
Das passiert auch ohne sogenannte Widerstandshandlungen. | |
Es gibt mit Sicherheit auch schwarze Schafe, die überziehen. Mittlerweile | |
gibt es in der Polizei aber einen Selbstreinigungsprozess. Seit ein paar | |
Jahren sind wir auf einem guten Weg und haben schon deutliche Fortschritte | |
gemacht. Aber es ist nun einfach mal ein menschliches Phänomen: Wenn man | |
sich dauerhaft körperlich auseinandersetzen muss, sinkt die Toleranz. Dafür | |
habe ich noch kein Rezept gefunden - außer man tauscht die Einheiten aus. | |
Haben Sie selbst oft vom Schlagstock Gebrauch gemacht? | |
Holzschlagstock nein. Mit dem Mehrzweckeinsatzstock: ja. | |
Sie sprechen vom Tonfa? | |
Richtig. Ich hatte schon mal so eine Situation, wo ich alleine 50 bis 100 | |
Personen vor mir hatte. Der Stock ist die letzte Chance, um sich den | |
erforderlichen Freiraum zu verschaffen. | |
Sind Sie einem Kollegen schon mal in den Arm gefallen? | |
Ich beantworte die Frage mal so: Wenn ein Kollege gezielt angegriffen | |
worden ist, machen wir es möglichst so, dass er selbst nicht an der | |
Festnahme beteiligt ist, um Emotionen zu mindern. Das ist in der Praxis | |
natürlich nicht immer umzusetzen. Ich würde sagen, es funktioniert zu 95 | |
Prozent. | |
Welcher war Ihr schlimmster 1. Mai? | |
Mein GAU war 2009. Das Gewaltpotenzial war immens. Gleich zu Beginn der | |
18-Uhr-Demonstration, es war noch taghell, flogen die Steine. Ein absoluter | |
Gewaltausbruch. Das zog sich dann den ganzen Abend hin. | |
Und welcher Ihr bester? | |
Das muss 1997 oder 1998 gewesen sein. Da hab ich gedacht, der 1. Mai ist | |
weg vom Fenster. Da gabs keine Gewalttätigkeiten, ich war um 22 Uhr zu | |
Hause. Das ist seither nie wieder vorgekommen. Der 1. Mai verläuft in | |
Wellenbewegungen. Danach hat es sich wieder gesteigert. 2010 war übrigens | |
auch ein Superjahr. | |
Was ist für Sie ein Autonomer? | |
Das Ziel eines Autonomen ist, den Staat zu bekämpfen. Er rechtfertigt das | |
mit allen Mitteln. Er sieht mich nicht als Menschen, sondern als | |
Institution. | |
Was ist Ihr Selbstbild als Polizist? | |
Mein Selbstbild ist, dass ich zu gewährleisten habe, dass jeder seine | |
Meinung friedlich auf die Straße bringen kann. Das gilt für rechts wie | |
links. Als Polizist habe ich den gesetzlichen Auftrag, die Gesellschaft vor | |
Gewalt zu schützen. | |
Was ist für Sie am 1. Mai der kitzligste Moment? | |
Bei der 18-Uhr-Demonstration sind wir immer unter Strom. Man muss jederzeit | |
damit rechnen, dass was passiert. | |
Und sonst? | |
Das Myfest war ein ganz großer Schritt in die richtige Richtung - global | |
gesehen. Aber auch da weiß man nie, wie die Leute auf einen reagieren. | |
Einmal mussten wir zur Punkbühne. Die haben sich einen Kullerkeks gefreut. | |
Endlich hatten sie was, an dem sie sich abreagieren konnten. Wie gesagt, | |
wir sind der Spaßfaktor. An anderen Stellen des Festes werden wir um so | |
herzlicher begrüßt und bekommen Kuchen angeboten. Das ist das Komische am | |
1. Mai in Kreuzberg: Man hat alle Sorten von Leuten und muss sehr | |
unterschiedlich agieren. Das macht die Sache schwer, aber auch interessant. | |
Was sagt Ihr Bauchgefühl - wie wird der 1. Mai 2012? | |
Der neue Innensenator versucht, die gleichen Konzepte wie sein Vorgänger zu | |
fahren. Aber in der Szene wird deutlich mehr mobilisiert. Die atypische | |
Demonstrationsroute macht mir schon ein bisschen Sorge. Meine Befürchtung | |
ist, dass die Szene versuchen wird, in die Innenstadt zu kommen, um dort | |
möglichst viel zu zerstören. Man wird sich den Innensenator zum Vorwand | |
nehmen und behaupten, er habe eskaliert. | |
Haben die Autonomen ihre Taktik in den letzten Jahren auch verändert? | |
Auf alle Fälle. Sie arbeiten mit Bezugsgruppen, schotten sich mehr ab. Sie | |
sind deutlich professioneller geworden und extrem gut vernetzt. Das liegt | |
natürlich auch an Internet und Handy. Sie haben ihre abgeschlossenen Foren. | |
Auch die ethischen Maßstäbe haben sich verändert. Die Art, in der Gewalt | |
ausgeübt wird, ist deutlich brutaler geworden. | |
1 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
Plutonia Plarre | |
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Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
Tag der Arbeit / 1. Mai | |
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