# taz.de -- 150. Geburtstag von Max Weber: Ikone der Bürgerlichkeit | |
> Zu seinem 150. Geburtstag ist Max Weber überaus präsent. Dass der | |
> Soziologe eine systematische Antwort auf Karl Marx suchte, bleibt aber | |
> unterbelichtet. | |
Bild: Der Ökonom und Soziologe Max Weber. | |
Max Webers 150. Geburtstag am 21. April lockt zwei monumentale Biografien | |
hervor – die des lebenslangen Weber-Forschers und emeritierten Soziologen | |
Dirk Kaesler (C. H. Beck Verlag) und die ausdrücklich als „intellektuelle | |
Biografie“ bezeichnete von Jürgen Kaube (Rowohlt.Berlin), einem der nur | |
noch wenigen Feuilletonisten in Deutschland, die von Soziologie als | |
Wissenschaft eine Ahnung haben. | |
Die Öffentlichkeit hat inzwischen den Degout vor dem Biografismus verloren, | |
der in den zwanziger Jahren von Siegfried Kracauer zuerst beobachtet wurde. | |
Marianne Webers 719 Seiten umfassendes „Lebensbild“ erschien eben in dieser | |
Zeit, 1926, als eine Welle biografischer Literatur den deutschen Buchmarkt | |
überschwemmte. | |
Die Biografen der Gegenwart scheuen sich nicht, das pikante Liebesleben von | |
Max Weber offenzulegen – einen Aspekt, den Marianne Weber sechs Jahre nach | |
dem Tod ihres Ehemanns 1920 diskret behandelte. Sie nutzte die biografische | |
Form, um das nahezu unsichtbare Werk ihres Mannes ans Licht der | |
Öffentlichkeit zu bringen. Der tief depressive 35-jährige Max Weber hatte | |
sich 1899 von seiner Professur in Heidelberg von seinen Lehrverpflichtungen | |
beurlauben lassen, pflegte aber Kontakte zu Kollegen, und Marianne führte | |
bis 1918 einen intellektuellen Salon, in dem eine Crème de la Crème von | |
links bis rechts verkehrte. | |
Max Weber konnte sich das leisten; er entstammte einer großbürgerlichen | |
Familie, und auch seine Frau hatte Vermögen mit in die Ehe eingebracht. | |
Nach bürgerlichen Kriterien, die Weber selbst an sich anlegte, fühlte er | |
sich gescheitert – oder wie Kaube lapidar feststellt: „Kein Buch, keine | |
Kinder, kein Krieg, kein Vermögen, kein Einfluss.“ Max Weber empfand sich | |
zeitlebens als Epigone. | |
## Aufstieg und Fall des preußischen Bürgers | |
Kaesler fasst die Frage nach dem Epigonentum sehr eng, weil er auch das | |
Leben Webers als Aufstieg und Fall eines preußischen Bürgers erklären will. | |
Kaesler verfängt sich in den Fallstricken des Biografismus; er versucht aus | |
einem individuellen Leben die Bedeutung des Werkes zu erklären, nicht aber | |
die Bedeutung des Menschen durch das Werk zu verstehen. Die Bedeutung des | |
Werkes schrumpft, die des Individuums wird verstärkt – ein | |
Persönlichkeitskult, der nicht durch ein paar kritische Bemerkungen | |
geschmälert wird. | |
Der alte Grundgedanke Siegfried Kracauers nach dem Ende des Ersten | |
Weltkrieges stimmte. In einer Zeit, in der die Autonomie des bürgerlichen | |
Individuums durch Massenschlachten und Inflation aufs Tiefste erschüttert | |
wurde, nährt der Biografismus den Glauben an ein selbstbestimmtes Leben. | |
Die Gesellschaft wird beim Soziologen Kaesler zu einem Rahmen, in den das | |
individuelle Porträt eingefügt wird. Er schwingt sich auf zum Richter über | |
ein Leben, über das aus der Gegenwart geurteilt wird – besonders abstoßend, | |
wenn in vulgärpsychologischer Form über Sexualität und Erotik des | |
Protagonisten Werturteile gefällt werden. Der Autor der Biografie | |
schmeichelt sich bei der Leserschaft als „wir Heutige“ ein, die allemal | |
post festum mehr wissen als der dargestellte intellektuelle „Heroe“. | |
## Keasler markiert den „wilden Max“ | |
So überrascht uns Kaesler gleich zu Beginn mit der banalen Erkenntnis: „Max | |
Weber ist nicht unser Zeitgenosse.“ Die Frage, warum wir uns dann für ihn | |
interessieren sollen, beantwortet der Autor mit einem seitenlangen Zitat | |
aus Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasoff“. Der „Held“ Dostojewski… | |
Alexei Karamasoff, aber ist eine fiktive Figur, Max Weber ganz bestimmt | |
nicht. Der Biografismus Kaeslers steht ganz unreflektiert in der Tradition | |
des bürgerlichen Romans in seiner Endphase. Aus der Lebensgeschichte wird | |
eine Familiengeschichte, die als gesellschaftliches Sittengemälde | |
daherkommt. Kaeslers beeindruckende Materialfülle wird nach dem trivialen | |
Muster Aufstieg und Fall des „wilden Max“ organisiert. | |
In Wirklichkeit war das Leben Webers außer ein paar studentischen Eskapaden | |
und sehr späten Liebesabenteuern nach jahrzehntelanger Festungsehe eher | |
langweilig. Aktuelles Interesse erzeugen eher seine säkularen, bis heute | |
unbeantworteten Fragen, die seine eigenen skeptischen Voraussagen, ein | |
sozialwissenschaftliches Werk habe eine Überlebensdauer von zehn bis | |
zwanzig Jahren, Lügen strafen. | |
## Kaubes Weber-Biografie ist klar im Vorteil | |
Was war das Movens eines psychisch schwer gestörten Mannes, der wie andere | |
im Fin de Siècle auch vom Schneiden der ererbten Coupons hätte leben | |
können, seine ganze Kraft auf die Erkenntnis der gegenwärtigen Gesellschaft | |
zu richten? Kaubes „intellektuelle Biografie“ ist im Vorteil gegenüber dem | |
Kaesler’schen Familienroman. | |
Kaube setzt am Selbstverständnis Webers an, der sich selbst in seiner | |
Antrittsvorlesung 1895 als „ein Mitglied der bürgerlichen Klassen“ | |
bezeichnet hat. Kaube entwickelt aus dieser Weber’schen Selbsteinschätzung | |
eine komplexe Vorstellung vom Bürgertum, wie es sich im letzten Drittel des | |
19. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt hat. 1895 hält er dieses | |
explizit bürgerliche Selbstbewusstsein für eine exklusive Kategorie, die | |
noch 1895 nur für fünf Prozent der Bevölkerung galt. | |
## Ein „klassenbewusster Bourgeois“ | |
Schon zehn Jahre später bezeichnet Weber sich als „klassenbewussten | |
Bourgeois“. Schärfer als in dem von Kaube bevorzugten Zitat kommt Max | |
Webers politische Frontstellung zum Ausdruck: Max Weber artikuliert ein | |
bürgerliches Klassenbewusstsein. Gegenstand seiner Erkenntnis ist die | |
bürgerliche Gesellschaft der Gegenwart, ihre Genese und ihre Prognose. 1911 | |
hatte er einen Lexikonartikel begonnen, der postum als achthundertseitiger | |
Torso sein Hauptwerk werden sollte: „Wirtschaft und Gesellschaft“. Dieses | |
unvollendete Buch sollte die Antwort auf die größte intellektuelle | |
Herausforderung des Bürgertums sein: auf „Das Kapital“ von Karl Marx. In | |
beiden Biografien bleibt dieser politisch-wissenschaftliche | |
Kristallisationspunkt des Weber’schen Oeuvres unterbelichtet. | |
Liest man genauer in den Schriften Webers nach, erscheint hinter dem | |
wissenschaftlichen Gegner Marx der politische Gegner Webers – die damals | |
noch sozialistische Sozialdemokratie. Sie gibt es heute ebenso wenig mehr | |
wie den revolutionären Kommunismus, dessen Anfänge in Russland Weber | |
aufmerksam beobachtete. | |
## Sozialismus als fromme Illusion | |
Aber Weber hielt den Sozialismus für eine fromme Illusion. Nicht den | |
Kommunismus sah er überall, sondern den Kapitalismus. In seiner | |
Besessenheit, die materialistische Geschichtsauffassung zu widerlegen, | |
dehnt er den Kapitalismus universalgeschichtlich aus – vom antiken Rom bis | |
ins ferne China. Der historische Sinn, den Marx mit seiner Kritik der | |
Politischen Ökonomie im Auge hatte, die kapitalistische Produktionsweise | |
unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit darzustellen, verdunstet bei Max | |
Weber. Marx konzipierte eine revolutionäre Theorie, die Weber’sche Antwort | |
beobachtet die moderne als kapitalistisch bezeichnete Gesellschaft | |
realistisch, ohne vor ihrer Widersprüchlichkeit die Augen zu verschließen. | |
Webers Prognose für den Kapitalismus liest sich düster – er versuchte die | |
Genese seiner modernen Gestalt aus dem Geist des Protestantismus zu | |
erklären, sah aber die Askese puritanischer Moral den christlichen Mantel | |
abstreifen, aus dem Bürger einen Fachmenschen werden, der in einem | |
„stahlharten Gehäuse“ von gesellschaftlicher Abhängigkeit gefangen ist. | |
## Die totale Verdinglichung | |
Max Weber sah eine Welt totaler Verdinglichung voraus, wie Herbert Marcuse | |
zum hundertsten Todestag auf dem Heidelberger Soziologenkongress vor | |
fünfzig Jahren herausarbeitete. Das Interesse an Weber hat sich verschoben | |
– noch im Kalten Krieg wurden seine methodologischen Schriften in | |
Westdeutschland, die strikte Trennung von Politik und Wissenschaft, gegen | |
die Politisierung der Wissenschaft ins Feld geführt. Mit dem Eintritt in | |
eine neue Epoche, die zweifellos eine nachbürgerliche ist, tritt das | |
Interesse am Werk hinter das Interesse an der Biografie zurück – ein | |
gehobenes „Unsere Großmütter, unsere Großväter“. | |
Je weniger bürgerliche Gesellschaft, desto mehr Sehnsucht nach | |
Bürgerlichkeit in einer säkularisierten Welt. Max Weber ist die Ikone | |
dieser Ersatzreligion. | |
21 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
## TAGS | |
Soziologie | |
Ökonomie | |
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FAZ | |
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