# taz.de -- Hintergrund der Proteste in Bochum: Erdogan und die Last von Sivas | |
> Neun mutmaßliche Mittäter des Pogroms von Sivas genießen Asyl in | |
> Deutschland. Strafrechtliche Verfolgung müssen sie nicht mehr fürchten. | |
> Ihre Taten sind nun verjährt. | |
Bild: Gedenkmarsch in Istanbul 2010 für die 1993 in Sivas ermordeten Menschen. | |
BERLIN taz | „Mit Gottes Segen“, kommentierte der türkische | |
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vorige Woche die Entscheidung des | |
11. Strafgerichtshofs in Ankara. Dieser hatte am Dienstag die Anklagen | |
gegen die noch flüchtigen mutmaßlichen Beteiligten des Pogroms von Sivas | |
für verjährt erklärt. Nach Protesten korrigierte sich Erdogan und sagte: | |
Verjährung gebe es nicht, aber es gehe ja nur um wenige Verdächtige. | |
1993 hatte im zentralanatolischen Sivas ein islamistischer Mob Brandsätze | |
in ein Hotel geworfen, in dem Teilnehmer eines alevitischen Kulturfestivals | |
untergebracht waren. 35 Menschen, darunter etliche Künstler und | |
Intellektuelle sowie zwei Angestellte des Hotels, verbrannten oder | |
erstickten. Obwohl frühzeitig alarmiert, unternahmen Polizei, Armee und | |
Feuerwehr stundenlang nichts, um die im Hotel festgesetzten Menschen zu | |
retten. | |
Pogrome gegen Aleviten hatte es zuvor schon gegeben – 1978 im | |
südostanatolischen Maras, wo über hundert Menschen starben; 1980 im | |
zentralanatolischen Çorum, wo 57 Menschen ums Leben kamen. Wo in den | |
siebziger Jahren der konfessionelle Konflikt zwischen Sunniten und Aleviten | |
durch politische Auseinandersetzungen überlagert wurde – die Aleviten | |
sympathisierten mehrheitlich mit der Linken, die Verantwortlichen von Maras | |
und Çorum kamen aus den Reihen der rechtsradikalen Grauen Wölfe – kam in | |
den neunziger Jahren der Konflikt zwischen Laizismus und der gerade | |
erstarkenden islamistischen Bewegung hinzu. | |
Denn auf diesem Kulturfestival in Sivas war auch Aziz Nesin zugegen, ein | |
prominenter Schriftsteller, der als Herausgeber einer Tageszeitung Auszüge | |
aus Salman Rushdies Buch „Die satanischen Verse“ gedruckt und damit den | |
Zorn der Islamisten auf sich gezogen hatte. | |
## Tatenlos zugesehen | |
Am 2. Juli 1993 zogen etwa 20.000 Menschen nach dem Freitagsgebet erst | |
durch die Stadt und schließlich vor das Madimak-Hotel und begannen, das | |
Gebäude zu attackieren. Steine und Brandsätze flogen. Temel Karamollaoglu, | |
damals Bürgermeister von Sivas, sprach mehrmals zu der Menge – nicht, um | |
sie zu beschwichtigen, sondern sie in ihrem mörderischen Tun zu ermutigen. | |
Karamollaoglu gehörte ebenso zur islamistischen Wohlfahrspratei wie der | |
heutige Ministerpräsident Erdogan und der Staatspräsident Abdullah Gül. Sie | |
und mit ihnen der gemäßigte Flügel der islamistischen Bewegung spaltete | |
sich erst im Jahr 2001 ab. | |
Die Gäste versuchten verzweifelt, Hilfe zu holen. Einer telefonierte mit | |
Erdal Inönü, damals Vorsitzender der sozialdemokratischen CHP, die als | |
Juniorpartner an der Regierung von Tansu Çiller beteiligt war. Inönü sagte | |
später, er hätte die Armee um Hilfe gebeten, aber seine Aufforderung sei | |
ignoriert worden. | |
Journalisten in Istanbul, die ebenfalls aus dem Hotel angerufen worden | |
waren, erreichten den Staatspräsidenten Süleyman Demriel. Dessen Antwort: | |
„Übertreibt nicht. Polizei und Militär haben alles unter Kontrolle. Wir | |
möchten die Sicherheitskräfte und das Volk nicht gegeneinander aufbringen.“ | |
Der Lynchmob gehörte für Demirel offenbar zum „Volk“, die eingeschlossenen | |
linken Künstler und Aleviten nicht. | |
Aziz Nesin und 50 weitere Menschen konnten sich schließlich über das Dach | |
des Hotels auf ein Nachbargebäude retten. Viele von ihnen waren schwer | |
verletzt. Und viele wurden noch bei ihrer Flucht aus der Menge heraus | |
attackiert. Teile der türkischen Öffentlichkeit beschuldigten Nesin | |
hinterher, er habe das Volk provoziert. | |
Ende der neunziger Jahre wurden hundert Beteiligte zu Haftstrafen zwischen | |
zwei Jahren und lebenslänglich verurteilt. In 33 Fällen erging die | |
Todesstrafe, die nach deren Abschaffung in der Türkei zu lebenslangen | |
Haftstrafen umgewandelt wurden. | |
## Asyl in Deutschland | |
Neun Beschuldigte flohen nach Deutschland, wo sie Asyl erhielten. Die | |
Auslieferungsanträge der türkischen Behörden wurden von deutschen Behörden | |
abgelehnt. Der mutmaßliche Hauptverantwortliche Cafer Erçakmak hingegen, | |
auch er ein Mitglied der Wohlfahrtspatei und während der Pogroms Stadtrat, | |
erlag im Juli 2011 in Sivas einem Herzinfarkt. Wie erst nach seinem Tod | |
bekannt wurde, hatte er trotz eines internationalen Haftbefehles | |
unbehelligt in seiner Heimatstadt leben können. Viele Kritiker werten dies | |
als Indiz dafür, das staatliche Stellen in das Pogrom involviert waren. | |
Die – freilich nie bewiesene – These, die bereits damals im Raum stand: Im | |
Sinne einer „Strategie der Spannung“ wollte man unter den Aleviten Angst | |
vor einer islamistischen Gefahr schüren. Die Aleviten hätten sich | |
hilfesuchend an den Garanten des Laizismus gewandt, nämlich der Armee. So | |
wäre die Loyalität der Aleviten gewährleistet gewesen – ein wichtiger | |
Faktor im Konflikt zwischen dem Militär und der kurdischen PKK, der ersten | |
Hälfte der neunziger Jahre auf seinen Höhepunkt erlebte. Ähnlich wurden die | |
Übergriffe auf Aleviten im Istanbuler Armenviertel Gazi im März 1995 | |
gedeutet, bei denen 19 Menschen ums Leben kamen. | |
Das Pogrom von Sivas ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb viele | |
Aleviten die Erdogan-Regierung immer noch ablehnen. Auf der | |
[1][Demonstration] am Samstag in Bochum wurde Sivas in Reden und auf | |
Transparent immer wieder thematisiert. | |
18 Mar 2012 | |
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[1] /Proteste-gegen-Erdogan/!89826/ | |
## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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