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# taz.de -- Kindesmissbrauch an der Odenwaldschule: Der Schänder wird sichtbar
> Jürgen Dehmers hat ein Buch über seine Erlebnisse an der Odenwaldschule
> geschrieben. Mit klarer Sprache entlarvt er darin die Reformpädagogen.
Bild: Von außen idyllisch, von innen für viele Kinder höllisch: Die Odenwald…
"Der Herr Direktor entlädt sich." Was für ein Satz. Ekelerregend. Und doch
nur einer von vielen. Knorzelige Männerfüße. Turnschuhe gegen
Geschlechtsverkehr. Spermatücher. Erzwungene Wichsrituale. Chronisch
besoffene Vierzehnjährige. In den Tod getriebene Jugendliche. Gewaltsam
aufgepresste Kinderkiefer, zwischen die sich gierige Männerzungen bohren.
Eine Vaselinedose mit Kotspuren im Schlafzimmer Gerold Beckers.
So steht es im Buch von Jürgen Dehmers, "Wie laut soll ich denn noch
schreien?" Die klare Sprache ist eine der große Stärken des Buches.
Dabei ist Dehmers Sprache im besten Sinne des Wortes normal. Sie bezeichnet
Dinge als das, was sie sind. Der Verzicht auf rhetorische Weichzeichner
macht die Taten der Schänder sichtbar. Wie soll schließlich Empathie mit
den Opfern entstehen, wenn nur von "Missbrauch" die Rede ist, also einer
eventuell verunglückten Form des "Gebrauchs"? Wie sollen Zusammenhänge
erkennbar sein, wenn sie von abstrakten Termini begleitet werden, die
nichts anderes sind als verbale Nebelgranaten?
Pädophilie selbst ist solch ein unerträgliches Wort. Als könne man
ernsthaft sagen, dass ein Pädophiler Kindern zugetan sei, so wie ein
Frankophiler eben Frankreich liebt. Es gehört zu den großen Perversionen
des allgemeinen Sprachkonsenses, dass mit diesem Begriff die Freundschaft
zu Kindern ausgerechnet denen zugesprochen wird, die sie zerstören.
## Vertuscher ficken die Sprache
Wer Kinder als Sexualobjekte betrachtet, liebt sie nicht. Manchmal sind
Sachverhalte tatsächlich so einfach. Und so, wie Gerold Becker, Wolfgang
Held und andere, teils noch unbenannte Täter Kinder systematisch
vergewaltigten und quälten, so wird die Sprache von den Vertuschern und
Relativierern, nein, nicht missbraucht, sondern gefickt. Klartext hilft.
Dehmers spricht ihn. In rationaler Leidenschaft, innerlich erregt und doch
äußerlich gelassen.
Mittlerweile dürfte Jürgen Dehmers einer der bekanntesten Unbekannten
Deutschlands sein. Sein Name ist ein Pseudonym - und gleichzeitig Synonym
für die Aufklärungsbemühungen rund um die OSO, die renommierte
Odenwaldschule Ober-Hambach, das liberale Vorzeigeinternat des besseren
Deutschlands. Gemeinsam mit Thorsten Wiest begann Dehmers bereits im
November 1999 öffentlich Licht in die systematischen Verbrechen zu bringen,
die jahrzehntelang ein fester Bestandteil des Leuchtturms der
Reformpädagogik waren.
Doch das Licht, entzündet mit Hilfe der Frankfurter Rundschau, wurde wie
von einem schwarzen Loch geschluckt: Jürgen Dehmers zeigt in seinem Buch
detailliert und unter Nennung von Namen, wie die Täter feixten, die
Verantwortlichen taktierten und die Medien wegschauten. Und wer bis zu
diesem Zeitpunkt denkt, der Zorn über die Taten Gerold Beckers und seiner
pädosexuellen Kamarilla könne nicht noch größer werden, wird beim Lesen
eines Besseren belehrt.
Angst essen Seele auf - was ist eine Schule wert, die aus reinem
Selbsterhaltungsflehen die Täter vor ihren Opfern schützt? Dehmers zitiert
aus dem Artikel der Frankfurter Rundschau, in dem der Nachfolger Beckers im
Amt des Schuldirektors, Wolfgang Harder, erklärt, dass der Missbrauch von
Schülern ein Stück Vergangenheit sei. Dass er, Harder, keine Veranlassung
gesehen habe, an die Öffentlichkeit zu gehen. Und dass schließlich alle
Menschen auch von Herrn Beckers Wirken profitiert hätten. Es ist eines
Schuldirektors schlicht unwürdig, so zu argumentieren. Denn es gibt nichts
Gutes im Schlechten: Darin gleichen die Verdienste Beckers den Autobahnen
Hitlers.
## Reformpädagoge auf dem Ledersessel
Ganz nebenbei bereitet Jürgen Dehmers allen Mutmaßungen über die mögliche
Mitwisserschaft Hartmut von Hentigs, des Lebenspartners Gerold Beckers, ein
abruptes Ende. Er benötigt nicht mehr als einen kurzen Absatz, um das Werk
des Gottes der deutschen Reformpädagogik in den Staub zu treten: "Ich hatte
Hentig als Kind kennen gelernt.
Er saß bei einem Besuch Beckers in dessen Wohnzimmer in einem der flachen
Ledersessel, von denen gut ein Dutzend in Beckers Wohnzimmer herumstanden,
und Becker stand seitlich neben ihm. Ich war kurz durch Beckers Wohnung
gegangen, vielleicht um mir ein Brot zu schmieren oder um etwas zu trinken
zu holen, als Hentig mich mit einem durchdringenden, fast gierigen Blick
ansah. Er sah zu mir, er sah zu Becker, wieder zu mir und sagte: Das ist
also einer von diesen Knaben!"
Wie kann es im erweiterten Kontext solcher Sätze möglich sein, dass die
Reformpädagogik bis zum heutigen Tag keine klare Position in der Causa
Becker und von Hentig bezogen hat? Es ist dieses Zögern, mit dem sich die
Heilslehre ihre Sargnägel selbst schmiedet. Sie entlarvt sich durch die
lautstark postulierte, aber wohl doch nur vorgebliche Nähe zum Kind, in dem
eitle Köpfe wie von Hentig offenbar nie etwas anderes gesehen haben als
unbedeutende Erfüllungsgehilfen ihres gesellschaftlichen Aufstiegs. Werde,
der du bist - aber pass bloß auf, dass nicht zu viele Reformpädagogen in
der Nähe sind.
Über die politischen und gesellschaftlichen Sekundanten des organisierten
Kinderschändens ließe sich noch einiges mehr sagen, als Jürgen Dehmers es
in seinem Buch tut. Ist nicht zum Beispiel Hellmut Becker, der erste
Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, jener
gefeierte "Bildungs-Becker", einer der Hauptverantwortlichen für die
schrecklichen Vergehen? Warum machte er, im Wissen um den versuchten
Missbrauch des eigenen Patensohns durch Gerold Becker, eben jenen im Jahr
1972 dennoch zum Direktor der Odenwaldschule? In welcher Beziehung stand er
zu Hartmut von Hentig und Gerold Becker?
Welchen Einfluss auf das Schulwesen haben diese Anhänger Stefan Georges
ausgeübt, die sich ihre erbärmliche Brücke des pädagogischen Eros zimmerten
und Platon am Nasenring durch die Manege zogen, um verbotenes Land zu
betreten? Man wünscht sich eine Interpretation dieser Zusammenhänge von
Jürgen Dehmers und ist doch gleichzeitig dankbar, dass der Autor der Lust
am Spekulieren nicht nachgibt und konsequent das selbst Erlebte und die
Fakten sein literarisches Geländer sein lässt.
## Pädosexualität ist unpolitisch
Wie Jürgen Dehmers schreibt, war die Welle, die die Odenwaldschule im
letzten Jahr erfasste, gewaltig. Und er stellt bewusst die Verbindung zu
den zahlreichen Missbrauchsskandalen an katholischen Schulen wie dem
Berliner Canisius-Kolleg her, die für die öffentliche Wahrnehmung und die
gesellschaftliche Diskussion wie ein Katalysator wirkten.
Dieser Punkt ist besonders wichtig: Denn, ob roter taz-Mitbegründer oder
schwarzer Priester - Pädosexualität ist unpolitisch. Kinderficker haben
kein Parteibuch. Jedes System ist ihnen recht, um darin die Ziele ihres
Triebes aufzustöbern. Wer das verkennt oder zerredet, erschwert den Kampf
gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern.
Links diskreditiert rechts aufgrund repressiver Strukturen, Rechts
diskreditiert links aufgrund grenzenloser Libertinage. Die Folge ist ein
engstirniges Patt. Und die Opfer sind erneut die Opfer. Dabei wird
verleugnet, was schon jedes Kind weiß: Ein Hundehaufen riecht nicht besser,
wenn ein zweiter Hund danebenkackt. Divide et impera - seit jeher nützt die
Politisierung der Pädosexualität nur den Tätern.
Ein starkes und beständig wiederkehrendes Motiv im Buch von Jürgen Dehmers
ist der Triathlon, dem er sich verschrieben hat. Dieser Extremsport ist
eine gute Metapher für das gesamte Buch. So braucht die Schilderung seines
Lebens bis zum Besuch der Odenwaldschule nicht mehr als eine Handvoll
Seiten und kommt wie ein kurzes Warm-up daher. Dehmers läuft los, erst
ungestüm, dann mit Bedacht, er muss seine Kräfte einteilen. Er kämpft gegen
die Ignoranz an, gegen seine Traumata, gegen seinen Alkoholismus, der ihm
die Flucht aus der Unerträglichkeit war.
## Nach 25 Jahren am Ziel
Gelegentlich stoßen sperrige Sätze wie "Nach Scheiße kommt scheißer!" und
einige Wiederholungen auf. Sie wirken seltsam ungelenk und passen doch ins
Bild, wirken wie ein Stolpern während des Laufs. Man ahnt den Lektor
hinterhereilen und japsen, doch es bleibt keine Zeit, stehen zu bleiben,
dieses Rennen muss endlich beendet werden.
Denn Dehmers läuft einen der härtesten Triathlons, den je ein Mensch
absolviert hat, und er erreicht nach 25 Jahren endlich sein Ziel. Er hat,
gemeinsam mit seinem Team, einen brutalen und kräfteverzehrenden Lauf
gewonnen. Diese Höchstleistung und den Durchhaltewillen Dehmers' können wir
gar nicht ermessen. Er ist um sein Leben gerannt.
Auch die anderen Opfer gewinnen durch dieses Buch. Ebenso die Wahrheit.
Gerold Becker und Wolfgang Held haben das Rennen nicht überlebt. Verloren
haben all jene, die glauben, man könne ungestraft Kinder vergewaltigen oder
aber die Vorfälle totschweigen. Hartmut von Hentig hat sich
praktischerweise selbst disqualifiziert. Die Odenwaldschule muss beißen,
wenn sie nicht auf der Strecke bleiben will. Und die Reformpädagogik irrt
orientierungslos durchs Unterholz.
Der Titel des Buches lautet: Wie laut soll ich denn noch schreien? Wer
diesen Ruf von Jürgen Dehmers nicht hören will, muss sich fragen lassen,
warum er freien Willens zu Verbrechern unter eine stinkende Decke kriecht,
unter die er seine eigenen Kinder niemals krabbeln lassen würde.
7 Sep 2011
## AUTOREN
Axel Lawaczeck
## TAGS
Kirche
Odenwaldschule
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