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# taz.de -- Kongress der Lernrefomer: Der Kongress darf nicht schweigen
> Auch das "Archiv der Zukunft" tut sich schwer, sexuelle Gewalt und
> Reformpädagogik zu diskutieren. Das Thema heißt beim Kongress der
> Lernrefomer nur "der Fall".
Bild: Mahntafeln, die am Wochenende die Straße zur Odenwaldschule säumten.
BERLIN taz | Bisher ging das beim "Archiv der Zukunft" ungefähr so: Nach
mehr oder weniger chaotischer Vorbereitung traf man sich in Hamburg,
Münster oder Bregenz. Alle lästerten stets ein bisschen über den
Filmemacher Reinhard Kahl, der die Irrungen und Wirrungen organisierte.
Aber sobald Kahl und Er auf der Bühne standen, fühlten sie sich alle wie zu
Hause. Und ganz oben, bei ihm, Hartmut von Hentig. Hier der geniale
Pädagoge, schnoddrig und schlau. Dort der charmante und eloquente Moderator
Kahl. Hinterher lagen sie beiden zu Füßen.
Das war der Spirit des "Archivs der Zukunft", das Netzwerk ist und zugleich
Veranstalter des wichtigsten deutschsprachigen Schulkongresses unter dem
Vorsitz von Reinhard Kahl. 1.500 Leute strömten 2008 nach Bregenz ins
Festspielhaus, um ein Hochamt des neuen Lernens zu feiern.
Aber nicht liturgisch, sondern lässig, mit Glanz und großen Namen. Die
besten deutschen Lehrer und Schulleiter, Stifter und Industrielle, viele
außerordentliche Menschen, der größte Hartmut von Hentig. So geht das nun
nicht mehr. Im Oktober gibt es eine Neuauflage des Kongresses unter dem
Titel "Arche Nova - Die Bildung kultivieren!"
"Der Hentig ist natürlich nicht eingeladen", sagt jemand aus dem
Vorbereitungsteam. "Und der kommt auch nicht."
Hartmut von Hentig ist raus.
## Erfinder der Laborschule
Einerseits ist das klar, nachdem er so lange an der Seite eines Mannes
lebte, der als Kinderschänder zu gelten hat. Dieser Mann war Gerold Becker,
Leiter der Odenwaldschule, wo er ein perfides Missbrauchssystem errichtete,
und er war der Lebensgefährte Hentigs.
Natürlich fragen seitdem alle: Kann es sein, dass Hentig das nicht gemerkt
hat? War er ein Schutzpatron für ihn? Hat er seinem Freund gar die
Reformpädagogik mit ihrer Nähe und ihrem pädagogischen Eros auf den Leib
geschrieben?
Andererseits: Kann man den Erfinder der Laborschule, den Autor von "Schule
neu denken" und "Die Menschen stärken und die Sachen klären", kann man
Hartmut von Hentig einfach streichen, vergessen, aus dem Gedächtnis tilgen?
"Ich finde, er hat gute Sachen geschrieben", sagt Ulrike Kegler,
Schulpreisträgerin mit ihrer Potsdamer Montessori-Schule. "Ich habe Schule
viel besser verstanden, als ich Hentig las. Seitdem weiß ich, um was es
wirklich geht. Wir waren alle froh, als er unser neues Projekt besuchte.
Jetzt ist das anders." Kegler ist keine wahnsinnig sentimentale Frau, sie
ist im "Archiv der Zukunft" die Powerfrau neben Kahl. Sie ringt um Worte,
denn sie will Hentig nicht meucheln.
Auch Kahl tut sich schwer. Kahl war sein Dauerbegleiter, wenn man so will,
ist der Journalist und Filmemacher ein aus der Disziplin gefallener
Hentigschüler. Der freie journalistische Mitarbeiter des Hentig'schen
pädagogischen Denkens. Er lieferte die schönen Bilder zu den großen Worten.
Hentig nahm Kahl schon mit auf Tour, da war der noch revolutionärer
Schüler. Im Käfer fuhren sie zum Dutschke-Kongress nach Hannover. Kahl
erzählte die Anekdote früher humorig auf der Bühne. Heute macht er das eher
ausweichend. Auch der Päderast Becker fuhr damals nämlich mit. Kahl kannte
ihn, da war er, Kahl, keine zwanzig.
Ich habe nichts gemerkt, sagt Kahl.
## "Die Reformpädagogik nach dem Fall"
Vergangenes Jahr sollte der Kongress in Bregenz zu einer Geburtstagsparty
für Hartmut von Hentig werden. Sein 85. wäre eine Krönungsmesse geworden -
wenn, ja wenn nicht im März herausgekommen wäre, dass Gerold Becker 86
Jungen im Odenwald missbraucht, verführt, vergewaltigt hat, manche mit 12,
einige zigfach, hundertfach.
Reinhard Kahl meint, das mit dem Geburtstag sei Zufall gewesen. Als das
ganze Ausmaß des sexuellen Missbrauchs im März 2010 bekannt wurde, "da habe
ich die Kongressvorbereitungen nicht gestoppt, aber verzögert". Und
schließlich den Kongress abgesagt. Der Kongress schwieg. Das größte
Verbrechen der Reformpädagogik blieb unerörtert.
Das war 2010.
Und was ist 2011?
"Wir haben das Thema lange nur am Rande im Auge gehabt", sagt der
Rhetoriker Kahl seltsam umständlich. "Und haben es nun in den letzten
Wochen stärker nach vorne gerückt." In der Hauptsache soll es um Kochen
gehen. Und um Theater. Nun gibt es noch ein Thema, Arbeitstitel: "Die
Reformpädagogik nach dem Fall." Das Wort Missbrauch kommt nicht vor.
Kahl erläutert es so: "Der entscheidende Punkt ist, dass das
Selbstverständnis derer, die sich unschuldig Reformpädagogen nannten,
erschüttert ist. Und wenn es nicht erschüttert ist, dann ist es ja noch
schlimmer."
Immerhin, Jürgen Oelkers soll sprechen, jener Züricher Pädagoge, dem die
Sonderlinge aus der deutschen Reformpädagogik schon immer auf die Nerven
gingen. Er nennt den Odenwald-Gründer Paul Geheeb einen Waldschrat in
Knickerbockern, den die Pädagogik nicht braucht. Er macht sich lustig über
die paramilitärischen Übungen, die es in manchem der Landerziehungsheime
gab.
Deren Leiter hassen Oelkers dafür. Oelkers juckt das nicht. Er weiß: Weite
Teile der reformpädagogischen Szene sind beratungsresistent. Sie glauben
bis heute nicht, dass wirklich etwas Schlimmes passiert sein könnte in
ihren rosaroten Charakterveredelungsanstalten. Denn dort steht ja das Kind
im Mittelpunkt und darf nicht beschämt werden.
## Krieg führen?
Der Päderast Becker sagte das auch immer. "Wer mich kennt, der weiß, dass
ich niemals ein Kind beschämen könnte." Kahl sagt nervös, "das ist ja
Wahnsinn, was Jürgen Oelkers aus den Anfängen der Reformschulen alles
ausgegraben hat".
Kahl will nun persönliche Bemerkungen in Bregenz machen. Er möchte seine
Verstörung zum Ausdruck bringen, seinen Schock, der ihn monatelang gelähmt
habe im vergangenen Jahr. "Es geht gar nicht um die Missbrauchsfälle im
engeren Sinne. Diese Geschichten sind erzählt", sagt er. "Sondern es geht
um die Frage: Wieso ist man bereit, etwas zu idealisieren, indem man die
Unebenheiten der Realität einfach beschönigt?"
So ähnlich sagt es auch Salman Ansari: "Es muss Schluss sein mit der
Pädagogik der schönen Rede." Der Inder ist längst Deutscher, und auch er
gehörte zu den Favoriten der AdZ-Kongresse. Bis Ansari, der Becker aus der
Odenwaldschule kannte und hasste, den Kongressguru Kahl zu nerven begann:
Er mahnte, nicht mit dem Päderasten Becker zu arbeiten und das AdZ nicht an
Hentig zu knüpfen.
Im Jahr 2007 stand Ansari dann auf der Premiere des Kahl-Films "Kinder", so
erinnert er sich, "und plötzlich biegt Gerold Becker um die Ecke". Ansari
empört das noch heute. "Man darf zu einem Film über Kinder keinen
Kinderschänder einladen."
Im Jahr 2009, Kahl beginnt gerade seinen neuen Kongress in Bregenz
vorzubereiten, da gibt ihm Ansari wieder einen Hinweis. Im Odenwald gebe es
nun Gespräche mit Betroffenen: Es sind viel mehr Opfer, alles ist viel
schlimmer, so lautet der Kassiber Ansaris an Kahl, drei Monate bevor alles
herauskam. Kahl fragt nun seinerseits empört zurück, ob er Krieg führen
oder etwa Bild-Zeitungs-Überschriften provozieren wolle. Auch andere finden
ihr AdZ-Gründungsmitglied Ansari inzwischen lästig.
Ansari kennt das. In der Odenwaldschule haben sie ihn als Judas beschimpft,
als er sich auf die Seite der Opfer stellte. Der kleine schwarze Mann, wie
er sich oft lächelnd nennt, ist aber keiner, der locker lässt. Er hat 15
Jahre neben Gerold Becker gearbeitet, er hat seine distanzlose Pädagogik
stets verurteilt.
Mit anderen hat er verlangt, Becker wegen Unfähigkeit als Rektor zu
entlassen. Was misslang, weil es immer genug Claqueure für Becker gab.
Seitdem reagiert Ansari allergisch auf Leute, die das Schweigen bevorzugen.
"Die Reformpädagogik muss endlich aufhören mit der Lüge", sagt er.
Ansari findet, dass der Missbrauch und die Reformpädagogik Thema sein
müssen. Mindestens müsse man die beiden Filme über den Missbrauch an der
Odenwaldschule zeigen, die Christoph Röhl und Luzia Schmidt gedreht haben.
Dann könnte man gemeinsames Wissen schaffen - auf der Basis der Einfühlung
in die Opfer. Sonst wird man womöglich darüber streiten, was passiert ist
und was nicht.
## Heldendämmerung
Wie Ansari denken nicht wenige. Gerald Hüther, Hirnforscher und einer der
Abo-Stars des AdZ, sagt, er habe ein Forum zum Missbrauch vorgeschlagen.
Man müsse die emotionale Aufladung über Bezugspersonen diskutieren, welche
die Reformpädagogik benutzt, um Kinder zu motivieren. Was aus dem Vorschlag
wurde, das weiß Hüther freilich nicht.
Keiner weiß genau, was geplant ist. Das weiß man bei den Kahl-Kongressen
immer erst, wenn man da ist. Es gibt Leute, die sind fest eingeladen. Aber
sie haben seit Monaten nicht gehört, wann und worüber sie sprechen sollen.
Einer aus einer Regionalgruppe des AdZ seufzt: "So ist er halt, der Kahl.
Regiert das Archiv wie ein kleiner König."
Bei Guido Brombach ist das anders. "Ja", sagt er, "ich habe lange gewartet.
Aber jetzt habe ich fantastische Möglichkeiten bekommen." Brombach, ein
Gewerkschafter, gehört zur Web2.0-Gemeinde im AdZ. Was er König Kahl
abgerungen hat, ist nicht ein einzelner Workshop, sondern eine komplett
neue Matrix für den Kongress der Kongresse. Sie heißt BarCamp.
Ein BarCamp ist eine sich selbst organisierende Konferenz - das Beste, was
Kahl passieren kann, der diesmal ohne Geschäftsführer auskommen will. Alle
Interessierten treffen sich morgens zur Seminarplanung. Dort präsentiert
jeder kurz, worüber er sprechen will. Dann geht's los.
Dafür steht die gesamte Hinterbühne des Schauspielhauses zur Verfügung. Das
bedeutet, die Konferenz verdoppelt sich: Auf der Hauptbühne das dann
(hoffentlich) fertige Normalprogramm, auf der Hinterbühne der Underground,
der seine Agenda selbst bestimmt.
"Das wird die Heldendämmerung", sagt einer, der sich mit BarCamps auskennt.
"Die Heroen Reinhard Kahls können nicht einfach mehr 1.500 Zuhörer
beglücken, sie müssen sich hinterher dem Volk stellen." Das Volk ist bei
Kahl stets kreativ und experimentierfreudig.
Vielleicht fragt dann ja einer: ",Die Reformpädagogik nach dem Fall', was
soll das denn für ein verschwiemelter Titel sein. Darüber müssen wir
reden!"
24 Aug 2011
## AUTOREN
Christian Füller
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