| # taz.de -- Tagebuch aus Estland: Wie sich die Gefahren zeigen, die im Exil dro… | |
| > Unsere Autorin lebt in Tallinn. Dass sich in ihrer russischen Heimat die | |
| > extreme Rechte formiert, kann sie nicht verdrängen. Die Drohung ist | |
| > präsent. | |
| Bild: Fluchtort vor russischen Nationalisten: Straßencafé in Tallinn, Estland | |
| Ich sitze in einem Café in [1][Tallinn]. Ich lebe im Exil in [2][Estland], | |
| weil mich das russische System vertrieben hat. Durch das Fenster sehe ich | |
| auf eine gepflasterte Straße. Es ist sehr ruhig hier. | |
| Auf dem Bildschirm meines Handys hingegen herrscht Surrealismus. Eine | |
| Push-Nachricht meldet, dass jüngt in der Stadt Ljuberzy bei Moskau 140 | |
| maskierte Menschen aufmarschiert sind. Es sind Mitglieder der | |
| rechtsextremen, nationalistischen Organisation [3][„Russische | |
| Gemeinschaft“]. Die Maskierten sangen das sowjetische Kinderlied „Wenn du | |
| mit einem Freund unterwegs bist“. So stellen sie sich nationale Einheit | |
| vor. Der 4. November wird in Russland schon seit einigen Jahren begangen. | |
| Ich schaue auf die Esten am Nachbartisch und denke darüber nach, was das | |
| überhaupt für ein Feiertag ist, dieser 4. November. Früher wurde der am 7. | |
| November gefeiert – überall, in allen Mitgliedsstaaten der | |
| [4][Sowjetunion], auch hier in Tallinn. Das war der wichtigste Tag im | |
| sowjetischen Kalender. Offiziell war es der Jahrestag der | |
| [5][Oktoberrevolution]. Der Tag, an dem „die da Unten“ „die da Oben“ | |
| gestürzt hatten. | |
| ## Ein Feiertag für Putin | |
| Der neuen Regierung gefiel dieser Feiertag anscheinend nicht. Entweder, | |
| weil mit ihm das Ende des Russischen Reiches gefeiert wurde. Oder aber, | |
| weil sie das Volk nicht daran erinnern wollte, dass es eine solche Option | |
| gibt – die Mächtigen zu stürzen. | |
| Auf den Feiertag zu verzichten, war aber keine Option, und [6][Wladimir | |
| Putin] setzte doch auf Stabilität. So kam es, dass der Kreml im Jahr 2005 | |
| auf einen Trick verfiel. Er tauchte in das staubige 17. Jahrhundert ein und | |
| holte das Jahr 1612 hervor. In der „Zeit der Wirren“ war es nämlich den | |
| beiden Männern Minin und Pozharski gelungen, Moskau von der Besatzung durch | |
| die polnische Armee zu befreien. Dies wird nun gefeiert, am 4. November. | |
| Es war eine geschickte ideologische Substitution. Der gefährliche | |
| „Klassenkampf“ wurde durch die sichere und im Vagen bleibende „nationale | |
| Einheit“ ersetzt. Das Ergebnis war ein Phantomfest. | |
| Aber dieses Phantom bekam schnell Zähne. Nationalisten liebten dieses Fest, | |
| es wurde zu ihrem Feiertag. Am 4. November werden in ganz Russland | |
| „Russische Märsche“ zelebriert, Hakenkreuze werden gezeigt, „Russland den | |
| Russen“ skandiert. | |
| Ich sitze weiter in dem Café in Tallinn und lese die Nachrichten noch | |
| einmal durch, schaue mir wieder die Videos dieses Marschs an. Mein Herz | |
| schlägt im Takt der Schritte. Die Polizei greift nicht ein – sie | |
| unterstützt vielmehr den Aufmarsch. Die Marschierenden bejubeln den Krieg | |
| in der Ukraine. Sie sind für Russen, und sie sind gegen Migranten. | |
| ## Wie der Kreml den Drachen erst groß machte | |
| Dieser gefährliche Drachen wurde jahrelang von Wladimir Putin gefüttert. | |
| Ideologisch, weil er die „Einheit gegen den äußeren Feind“ beschwor und | |
| durchaus wörtlich, denn der Kreml hat einst Nationalisten finanziert. In | |
| Moskau dachte man, dann bliebe der Drache zahm. Aber der Drache wurde nur | |
| noch gefräßiger und suchte sich einen Feind im Inneren. | |
| Denn was ist diese „Einheit des Volkes“, die offiziell an diesem Tag | |
| gefeiert wird? In [7][Russland] gibt es mehr als 190 Völker. Es sind | |
| Republiken und autonome Bezirke, die unter nationalen Gesichtspunkten | |
| gebildet wurden. Doch im heutigen Russland gilt jedes Behaupten der eigenen | |
| Identität – ob sie tatarisch, burjatisch oder sonst wie ist – als | |
| gefährlicher Separatismus. | |
| Das ist wohl das Wichtigste, was man über die russische Ideologie wissen | |
| muss. Der Faschismus hat aufgehört, ein Randphänomen zu sein; er ist | |
| vielmehr zu einer Form staatlicher Herrschaft geworden. Der Kreml hat | |
| jahrelang so eifrig jede Identität erstickt, dass er nicht bemerkt hat, wie | |
| die von ihm selbst groß gemachten rechtsextremen Nationalisten ihm einen | |
| neuen 7. November bescheren konnten. | |
| [8][Arina Kochemarova] ist Journalistin aus Moskau. Seit Beginn des Kriegs | |
| gegen die Ukraine lebt sie im Exil in der estnischen Hauptstadt Tallinn. | |
| Sie nimmt an einem [9][Osteuropa-Workshop der taz Panter Stiftung] teil. | |
| Aus dem Russischen von [10][Tigran Petrosyan]. | |
| Durch [11][Spenden an die taz Panter Stiftung] werden unabhängige und | |
| kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts | |
| „Tagebuch Krieg und Frieden“ finanziell unterstützt. | |
| 14 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Arina Kochemarova | |
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