| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Legende von Jan-Carl und Bogdan | |
| > Was macht ein sonst von Fahndungsplakaten starrendes Mitglied der Roten | |
| > Armee Fraktion im Schulsportunterricht? Ziemlich gut Fußball spielen. | |
| Zum Sportunterricht mussten wir in den siebziger Jahren mit dem Bus zur | |
| Turnhalle fahren. Dort trafen wir eines Tages den Kleinkriminellen Fritzle | |
| beim Aufbrechen eines Mofaschlosses an. Fritzle kam aus einer Familie | |
| voller Hallodris, Tagediebe und Taugenichtse. Er war mit 14 von der Schule | |
| geflogen und lebte seitdem von Diebstählen und anderen zweifelhaften | |
| Tätigkeiten. | |
| „Hallo Fritzle“, sagte einer von uns, und Fritzle sagte: „Hallo, ihr | |
| Eierköpfe.“ Dann fragte er: „Darf ich mal mit euch in den Sportunterricht | |
| gehen? Ich spiele doch so gerne Fußball.“ | |
| In der Tat war er ein sehr guter Fußballer, der nur deswegen aus dem | |
| örtlichen Fußballverein geschmissen wurde, weil er während des Trainings | |
| regelmäßig kurz „aufs Klo“ ging, in Wahrheit aber in den Umkleidekabinen | |
| die Geldbörsen seiner Mitspieler ausräumte. „Klar, komm mit rein“, sagte | |
| Uli, unser Klassensprecher. „Wir stellen dich unserem Lehrer Bogdan vor.“ | |
| Bogdan war es völlig egal, ob einer mehr am Sportunterricht teilnahm. Er | |
| fragte Fritzle nach seinem Namen, und Fritzle sagte spontan: „Ich heiße | |
| Jan-Carl Raspe.“ | |
| Uns allen stockte der Atem. Was für eine Dreistigkeit! Fritzle hatte diesen | |
| Namen vermutlich auf einem der Fahndungsplakate gelesen, die überall in der | |
| Stadt hingen. Der echte Jan-Carl Raspe saß zu diesem Zeitpunkt im Knast in | |
| Stammheim. Jeder kannte ihn. Jeder! Außer Bogdan. Er trug den Namen in sein | |
| Notizbuch ein und sagte dann: „Jan-Carl, du spielst im Mittelfeld.“ | |
| Sehr schnell war er mehr als zufrieden mit den Leistungen des neuen | |
| Spielers, der von nun an in jeder Sportstunde mit dabei war. „Jan-Carl“, | |
| sprach Bogdan, „aus dir kann noch ein Profi werden.“ Jan-Carl kam stets | |
| flink aus der Tiefe des Raums, schlug göttliche Flanken, wirkte mit dem | |
| Ball am Fuß wie ein Intellektueller und war uns anderen immer einen Schritt | |
| voraus. | |
| Irgendwann war das Schuljahr zu Ende und die Lehrerkonferenz mit der | |
| Notenbesprechung stand an. Dort gab es große Verwirrungen, als Bogdan vor | |
| dem versammelten Kollegium euphorisch „die sensationellen Leistungen von | |
| Jan-Carl Raspe“ lobte. Vorsichtige Einwände der anderen Lehrer, einen | |
| Schüler diesen Namens gebe es nicht an unserer Schule, ließ Bogdan nicht | |
| gelten. „Natürlich gibt es ihn“, rief er. „Er ist ja seit fast einem hal… | |
| Jahr dabei!“ | |
| Erst nach und nach verhärtete sich beim gutgläubigen Bogdan der Verdacht, | |
| dass dieser Schüler eventuell vielleicht doch nicht Jan-Carl Raspe heißen | |
| konnte und dass er vielleicht nicht einmal ein Schüler war. | |
| Bogdan blieb dann noch 20 Jahre lang Sportlehrer an unserer Schule, und wie | |
| die Geschichte von Fritzle ausging, ist in zwei verschiedenen Legenden | |
| überliefert: Die eine besagt, dass er eine beachtliche Karriere als | |
| Profifußballer in Südostasien machte, die andere erzählt, er habe eine | |
| grandiose Laufbahn als viel beachteter Autoknacker hingelegt. Ich finde | |
| beide schön! | |
| 19 Nov 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Wolfgang Weber | |
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