| # taz.de -- Nähe und Distanz in Berichterstattung: Oder soll man es machen? | |
| > Unser Autor hat eine Rettungsmission der „Sea-Watch 5“ begleitet. Wie | |
| > geht journalistische Distanz in der Enge eines Schiffs? | |
| Bild: Insgesamt 124 Menschen rettete die „Sea-Watch 5“ bei ihrem Einsatz … | |
| Es ist nur wenige Minuten her, dass der Mann mit 65 weiteren Menschen aus | |
| dem Mittelmeer gerettet wurde. Jetzt sitzt er vor mir im überfüllten Bauch | |
| eines Seenotrettungsschiffs. Sichtlich nervös. Er sagt, er habe Durst. | |
| Für die taz bin ich im September mit an Bord der „Sea-Watch 5“, um über d… | |
| Arbeit der zivilen Seenotrettungsorganisaton zu berichten. Berichten, nicht | |
| mitmachen. Verlasse ich meine Beobachterrolle, wenn ich dem Mann eine | |
| Flasche Wasser in die Hand drücke? | |
| Die Forderung nach mehr „gesunder Distanz“ im Journalismus kommt alle paar | |
| Jahre auf und dreht ihre Runden über die deutschen Meinungsseiten und | |
| Feuilletons. 2014 etwa, als Udo van Kampen, damals Chef des ZDF-Studios in | |
| Brüssel, „Happy Birthday“ für die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel | |
| sang, zu ihrem 60. Geburtstag. taz-Redakteur Erik Peter warf ihm damals | |
| vor, an seiner Aufgabe, kritische Distanz zu den Mächtigen zu wahren, | |
| „grandios gescheitert“ zu sein. Der Gedanke dahinter: Wer sich so | |
| anbiedert, stellt keine unangenehmen Fragen mehr – für viele eine | |
| Kernaufgabe der Medien als vierte Gewalt. | |
| Kurz bevor ich in Süditalien [1][an Bord] ging, hatte der Sea-Watch-Verein | |
| sein zehnjähriges Bestehen gefeiert. Ich sollte darüber berichten, [2][wie | |
| sich Seenotrettung im Mittelmeer von damals bis heute verändert hat]. Schon | |
| im Vorfeld stellte sich für mich die Frage, wie nah ich den | |
| Aktivist:innen und Geflüchteten kommen könnte, ohne journalistische | |
| Standards zu verletzen. | |
| ## Es wird auf engstem Raum gegessen, geputzt, geschlafen | |
| Die Realität auf dem Schiff ist nämlich auch: Es wird auf engstem Raum | |
| gegessen, geputzt, geschlafen und nach Feierabend ein Bier auf dem Deck | |
| getrunken. Gemeinsam mit der Crew durchlief ich Sicherheits- und | |
| Erste-Hilfe-Trainings und übernahm kleine Aufgaben an Bord. Ich spülte | |
| Geschirr, reinigte Toiletten und machte die Wäsche. Das war so gewünscht. | |
| Aus der eigentlichen Arbeit der NGO, der Seenotrettung, wollte ich mich | |
| heraushalten – denn diese war ja Objekt meiner Beobachtung. | |
| Doch warum ist es wichtig, diese Linie zu ziehen? Für viele ist die Antwort | |
| glasklar: Weil sonst die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus | |
| verschwimmen. Wer selbst engagiert sei, könne nicht ausgewogen und neutral | |
| berichten. Der berühmte Satz von Tagesthemen-Urgestein Hanns Joachim | |
| Friedrichs wird da gern angeführt: „Einen guten Journalisten erkennt man | |
| daran, dass er sich nicht mit einer Sache gemein macht, auch nicht mit | |
| einer guten Sache; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.“ | |
| Eine Interpretation von Friedrichs’ Aussage: Theoretisch sollen | |
| Reporter:innen eine objektive Wahrheit beobachten und diese dann frei | |
| von eigener Wertung an die Leser:innen weitergeben. | |
| So edel die Idee, so unrealistisch die Umsetzung. Allein dadurch, dass | |
| Journalist:innen ein Thema als berichtenswert adeln, äußern sie eine | |
| Meinung. Nämlich: „das hier ist wichtig!“. Der objektive Blick von außen | |
| ist eine menschliche Unmöglichkeit. Sprache und Wahrnehmung sind geprägt | |
| durch Herkunft, Milieu, persönliche Ziele und politische Überzeugungen. | |
| Auch ohne anzuzweifeln, dass sich Realität überhaupt sprachlich abbilden | |
| lässt, wie Poststrukturalist:innen es tun, muss anerkannt werden, | |
| dass die Dinge eben nicht für alle gleich sind und „sagen, was ist“, sehr | |
| unterschiedlich ausfallen kann. | |
| Aber etwas muss doch dran sein an dem Wunsch nach Abstand. Nähe zu | |
| Protagonist:innen ist einerseits wichtig, um an Informationen zu | |
| kommen. Eine gute Reportage lebt davon, dass der Schreibende für die | |
| Leser:innen Distanzen überwindet. Das geht nur, wenn Menschen Vertrauen | |
| in Journalist:innen fassen und ungeschönt erzählen. Der berühmte „Blick | |
| hinter die Kulissen“ erlaubt es Leser:innen, Vorurteile zu revidieren und | |
| neue Schlüsse zu ziehen. Wird diese Nähe jedoch zu Mitgliedschaft oder | |
| Teilnahme, stellt sich zumindest die Frage, ob bei Missständen in den | |
| eigenen Reihen nicht doch mal das Reporterauge zugedrückt wird. | |
| „Die Meinung ist frei, die Fakten sind heilig“, schrieb kürzlich | |
| SZ-Meinungschef Detlef Esslinger. Doch ob einem auch abgenommen wird, bei | |
| den Fakten zu bleiben, steht auf einem anderen Blatt. | |
| Der Punkt hier ist nicht Neutralität. Kaum jemand würde glauben, dass ein | |
| taz-Autor keine Meinung zu Kohleverstromung durch RWE hätte – auch ich war | |
| auf Demos gegen das Abbaggern von Lützerath, als Teilnehmer, ohne zu | |
| berichten. Wenn ich in Lützerath jedoch als Journalist gewesen wäre und | |
| mich mit den Aktivist*innen von Ende Gelände hätte wegtragen lassen – | |
| wie wahrscheinlich ist es dann, dass Leser:innen mir zutrauten, | |
| unvoreingenommen zu berichten? Hätte ich mich gemein gemacht, hätte das | |
| meinen eigenen Standpunkt geschwächt. | |
| Daher ist Transparenz über die eigene Position in der Welt essenziell | |
| wichtig, besonders in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Medien | |
| schwindet. Wer seine eigene Rolle während einer Recherche, sein | |
| zivilgesellschaftliches Engagement, die Vereinsmitgliedschaft oder das | |
| Aktienportfolio offenlegt, dem glaubt man eher. Leser:innen können sich | |
| so ein vollständigeres Bild machen und eine differenzierte Meinung bilden. | |
| Doch Offenheit macht auch angreifbar, egal, wie unbestechlich jemand in der | |
| Realität sein mag. taz-Redakteurin Ulrike Herrmann – häufig scharfe | |
| Kritikerin der Grünen – entschied sich 2021, ihre immer offen kommunizierte | |
| Parteimitgliedschaft ruhen zu lassen, nachdem Befangenheitsvorwürfe von | |
| rechts nicht abreißen wollten. | |
| ## Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz | |
| Ein ganz anders gelagerter Fall ist der des ehemaligen Spiegel- und | |
| Zeit-Autor Raphael Thelen. 2023 beendete er seine Karriere, um Aktivist bei | |
| der Letzten Generation zu werden. Damit reagierte er eigenen Aussagen | |
| zufolge auf Vorwürfe aus der Öffentlichkeit – nicht zuletzt seitens | |
| Kolleg:innen, die anmahnten, seine Texte zu Klimathemen enthielten zu viel | |
| eigene Haltung. In einem solchen Umfeld könne er, wenn er die Dringlichkeit | |
| der Klimakrise benennen wolle, nicht länger arbeiten, sagte Thelen damals. | |
| Das Maß zwischen Nähe und Distanz zu finden, bleibt eine Gratwanderung | |
| jedes Einzelnen. Wer nach bestem Wissen und Gewissen arbeitet, Fakten | |
| abbildet und sensibel mit Zusammenhängen und Zwischentönen umgeht, wird | |
| immer wieder neu entscheiden müssen, wo sie*er Nähe zulässt und wo nicht. | |
| Bei einer Reportage von einem Spargelfeld lohnt sich vielleicht die | |
| teilnehmende Beobachtung, um den Leser:innen die unmenschlichen | |
| Arbeitsbedingungen näher zu bringen. Bei Liveberichterstattung über | |
| Ausschreitungen auf einer Neonazidemo wohl weniger. Es gibt keine pauschale | |
| Antwort auf die Frage, wo die Grenze zwischen Beobachtenden und | |
| Beobachteten zu ziehen ist – zu unterschiedlich verläuft sie von Fall zu | |
| Fall. | |
| Klare Fälle zeigen uns jedoch, wie genau man es nicht machen sollte. | |
| Nämlich: fragwürdige Verbindungen eingehen und anschließend verheimlichen. | |
| Genau dafür entschied sich jedoch der Zeit-Journalist Jochen Bittner. 2013 | |
| hatte er an einem Strategiepapier transatlantischer Thinktanks | |
| mitgearbeitet, es lieferte die Grundlage für die Rede des damaligen | |
| Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Münchener Sicherheitskonferenz und | |
| die neue außenpolitische Strategie der Bundesregierung. | |
| ## Ab welchem Punkt bin ich der Falsche für den Job? | |
| Über ebendieses Thema hatte Bittner im Nachhinein dann wohlwollend in der | |
| Zeit berichtet, ohne seine Lobbyarbeit transparent zu machen. Als der Fall | |
| später in der ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“ aufs Korn genommen wurde, war | |
| der empörte Aufschrei über Bittners Verstrickungen berechtigterweise groß. | |
| War es nun moralisch richtig, dass ich dem Mann auf der „Sea-Watch 5“ meine | |
| Wasserflasche letztendlich in die Hand drückte? Alles andere hätte sich | |
| lächerlich und falsch angefühlt. War es journalistisch richtig? Das ist | |
| Ansichtssache. Hat es meine Glaubwürdigkeit angekratzt? Vielleicht ein | |
| bisschen. Wie wäre es gewesen, wenn ich selbst Menschen aus dem Wasser | |
| gezogen hätte? Durch das Fernglas ein Boot in Seenot erblickt hätte? Mit | |
| der [3][libyschen Küstenwache] über Funk gestritten hätte? Ab welchem Punkt | |
| wäre ich nicht mehr der Richtige für den Job gewesen? | |
| Da es, wie der Fall Jochen Bittner zeigt, nicht ausreicht, auf den gesunden | |
| Menschenverstand von Journalist:innen zu vertrauen, scheint es so, als | |
| bleibe uns nichts anderes übrig, als weiter ständig über diese Fragen zu | |
| streiten und uns gegenseitig unsere Fehltritte aufzuzeigen. Nähe ist nicht | |
| nur menschlich, sondern auch wichtig für den Journalismus. Aber zu viel | |
| davon kann unglaubwürdig machen – vor allem, wenn man sie verheimlicht und | |
| stattdessen behauptet, neutral über dem Geschehen zu schweben. | |
| 16 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Schroer | |
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