| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Fischeinwickelblätter fallen | |
| > Wenn zum Druckschluss die letzte Kolumne auf Papier erscheint, kann sich | |
| > Nostalgie einstellen. Dabei ist Nostalgie doch meist grauenhaft. | |
| Ich komme aus der Holzwelt. Als ich bei einer Zeitung anfing, brüllte mich | |
| der Chefredakteur regelmäßig an: „Da werden morgen die Fische drin | |
| eingewickelt!“, weil er meine poetischen Höhenflüge anlässlich von | |
| Bezirksversammlungssitzungen und Brückenbauplanungen nicht übermäßig | |
| schätzte. Was sollte der arme Mann heute schreien, wo es kaum noch Fisch, | |
| aber dafür Tablets gibt? „Da werden morgen … äh, Pokebowls … äh, | |
| Digitalfriedhof … äh, egal, schreib’s gefälligst nochmal.“ | |
| Je älter ich werde, desto höher steigt mein persönlicher Nostalgiepegel; | |
| eine Erkenntnis, die mindestens so originell ist wie „Abends wird es | |
| dunkel“. Noch dazu hasse ich Nostalgie, aber wahrscheinlich nur die anderer | |
| Leute. Grauenhaft, was Oma und Opa immer erzählten; allein die Großtante, | |
| die sich an die Novemberrevolution erinnern konnte, war cool. | |
| Besonders selbstgefällig tobt sich Rückwärtsgewandtheit im Besuch von | |
| Revival- und Comeback-Konzerten beinahe schon mumifizierter Musiker aus. Zu | |
| so was würde ich auf keinen Fall hingehen, außer neulich zu Graham Nash, | |
| weil ich ihn mit 17 Jahren toll fand und damals nicht live sah. Inzwischen | |
| ist er grau und irgendwie nicht mehr mein Graham Nash, aber ich bin ja auch | |
| nicht mehr die Fischverpackungsmaterialproduzentin von vor hundert Jahren. | |
| Außerdem war ich neugierig, was er jetzt so für Musik macht. Spoiler: | |
| dieselbe wie vor fünfzig Jahren, gemeinsam mit Musikern, die so gut singen | |
| können wie Crosby und Stills. Willkommen in der Zeitmaschine. | |
| Um mich herum feierten Männer mit grauen Pferdeschwänzen – vor allem sich | |
| selbst. Waren sie dafür etwa aus der ganzen Republik extra nach Hamburg | |
| gereist? Hier dürft ihr die sein, die ihr früher gern gewesen wärt? | |
| Natürlich tritt Nash immer noch für Frieden an; Gesinnungsapplaus ist ihm | |
| sicher, leider auch für seine unterkomplexen Äußerungen zum Gaza-Streifen. | |
| Ja, ein Rockkonzert ist keine Politologieseminar, aber Woodstock ist | |
| inzwischen so lange her wie der Dreißigjährige Krieg, den Nash auch schon | |
| miterlebt hat. Sagen Statler und Waldorf, die Nörgel-Ikonen, die mich bei | |
| solchen Gelegenheiten immer begleiten. | |
| Auch in einem anderen Nostalgie-Konzert, in das ich unfreiwillig geriet, | |
| unterstützten sie mich: Die Schlagersängerin Nicole, berühmt geworden mit | |
| der durchdachten Botschaft, dass ein bisschen Frieden ganz toll sei, | |
| beschallte ein Stadtfest vor meinem Darmstädter Hotel. „Ich wäre jetzt gern | |
| ein bisschen tot!“, rief Statler. | |
| Bis zu Nicoles größten Hit hielt ich nicht durch, aber vorher glänzte sie | |
| schon mit der Mitteilung, dass die Welt viel besser werde, wenn wir alle | |
| mal die Handys weglegen täten. Applaus! Und dann die Handys raus, um alles | |
| festzuhalten. Irgendwann fragte irgendwer, ob die Frau auf der Bühne Helene | |
| Fischer sei, und der Abend versank in einem gnädigen Schleier aus | |
| Apfelweindunst. Von nun an besuche ich nur noch Konzerte junger Musiker. | |
| 8 Oct 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Fischer | |
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