| # taz.de -- Debatte um „Antideutsche“: Kampf gegen Gespenster | |
| > Wer heute von „Antideutschen“ spricht, verkennt die Historie hinter | |
| > dieser Zuschreibung. Eine Antwort auf einen Debattentext an dieser | |
| > Stelle. | |
| Bild: „All Eyes on Gaza“-Demontration am 27. September 2025 in Berlin | |
| Von Marx wissen wir, dass sich Revolutionär*innen mitunter in | |
| Gewänder aus der Vergangenheit hüllen – wie Schauspieler*innen in | |
| Historienstücken. Ebenso geschieht es, dass Menschen, die sich für eine | |
| Sache engagieren, Feind*innen beschwören, die in der Gegenwart gar nicht | |
| oder nicht mehr existieren. Wie soll man das beschreiben? Als Kampf gegen | |
| Gespenster? Einschlagen auf Pappkameraden? Die [1][sogenannten | |
| Antideutschen sind gerade solche Pappkameraden]. | |
| Wer alt genug ist, um die 1990er Jahre politisch bewusst erlebt zu haben, | |
| wird sich vielleicht an eine politische Strömung erinnern, die so genannt | |
| wurde und sich – in selteneren Fällen – auch selbst so nannte. Diese | |
| Geschichte lässt sich anhand zweier linker Medien erzählen. Damals | |
| entschied der damalige konkret-Herausgeber Hermann Gremliza, die | |
| Scud-Raketen, die Saddam Hussein während des Golfkrieges auf Israel | |
| abfeuerte, nicht länger antiimperialistisch zu rechtfertigen – ein Bruch | |
| mit dem seit dem Sechstagekrieg 1967 in der Linken hegemonialen | |
| Antizionismus. | |
| In der Redaktion der Tageszeitung Junge Welt brach ein Streit aus, der | |
| später zur Spaltung der Redaktion und zur Gründung der Wochenzeitung Jungle | |
| World führte. Diese Entwicklung in der linken Publizistik reflektiert die | |
| innerlinken Debatten nach dem Mauerfall. Das Label „antideutsch“ entstand | |
| damals als Markierung für diejenigen, die sich besonders kompromisslos der | |
| Entstehung eines neuen „Großdeutschlands“ entgegenstellen wollten. Eine | |
| Ausdifferenzierung innerhalb jenes Lagers, das sich dem Nationalismus und | |
| nicht nur den Neonazis auf der Straße widersetzte. | |
| Wie verhält man sich zu dem, was Marx und Engels als „deutsche Ideologie“ | |
| beschrieben hatten? Gibt es eine Neuauflage des „deutschen Sonderwegs“ wie | |
| Ende des 19. Jahrhunderts? Wenn ja, wohin würde die Reise diesmal gehen? | |
| Man meint, die grobe Richtung zu kennen: weg „vom Westen“. Deutschland | |
| hatte, lange vor der Nazizeit, den Hang, sich nach Osten zu orientieren, um | |
| sich von der westlichen Zivilisation abzuwenden. Eine Art imperialistische | |
| Identitätspolitik: Westliche Länder seien „nur“ eine Zivilisation, man | |
| selbst sei aber eine „Kultur“. | |
| Klingt das nicht vertraut aus mancher heutigen Debatte um | |
| Postkolonialismus? Genau solche Kurzschlüsse gilt es zu vermeiden. Weil die | |
| identitäre Mobilisierung längst zum Kernbestand rechter und autoritärer | |
| ideologischer Raumergreifungsstrategien gehört. Das Milieu, das sich selbst | |
| als „antideutsch“ bezeichnete, gibt es heute kaum noch. Längst ist der | |
| Begriff zur Fremdzuschreibung geworden – für jene Linke, die jedem | |
| Antisemitismus widersprechen, nicht nur dem der Rechten. Doch verschleiert | |
| das mehr, als es enthüllt. Und das ist gewollt, denn dabei gelingt ein | |
| bemerkenswerter Taschenspielertrick: Man kann den so markierten | |
| Gegner*innen genau das unterjubeln, was diese seinerzeit konsequent | |
| kritisiert hatten, nämlich das „Wiedergutwerden der Deutschen“ (Eike | |
| Geisel) als nationale Imagekampagne. | |
| ## Intellektuell unredlich | |
| Es ist intellektuell unredlich und historisch inkorrekt, den | |
| „Antideutschen“ von damals die Berufung auf eine Staatsräson bei der | |
| Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in die Schuhe zu schieben. Denn | |
| es ist genau umgekehrt. Es waren diese „Antideutschen“, die die staatlichen | |
| Strategien als Erste benannten und scharf kritisierten, die heute zur Rede | |
| vom „importierten Antisemitismus“ führen, um vom Antisemitismus der | |
| deutschen Mehrheitsgesellschaft abzulenken. Heute solche Pappkameraden | |
| aufzustellen, ist auch ein Ablenkungsmanöver. Es lenkt vom real | |
| existierenden Antisemitismus innerhalb der Linken ab, egal ob im | |
| Globalisierungsdiskurs oder beim Blick auf den sogenannten Nahostkonflikt. | |
| Trauriger Tiefpunkt war die [2][„All Eyes on Gaza“-Demo Ende September in | |
| Berlin], bei der offenbar zahlreiche Symboliken, auf denen Israel von der | |
| Landkarte getilgt war, offenbar kein Problem für die | |
| Organisator*innen darstellten – der dystopische Traum der Hamas. | |
| Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt war zur gleichen Zeit eine | |
| Gruppe von 150 Menschen am Berliner Dom zur „Shalom-Salam“-Kundgebung | |
| versammelt. Sie machten das, was die Orga der Großdemonstration gar nicht | |
| erst versucht hatte: Sie schufen den Ort, an dem [3][friedensbewegte | |
| Israelis, Palästinenser*innen und auch hiesige Linke zusammenkommen | |
| konnten] – für eine sofortige Beendigung des Krieges, die Rückkehr der | |
| Geiseln, ein Ende des Terrors. | |
| Bis heute verweigern viele sich „palästinasolidarisch“ nennende Gruppen | |
| nicht nur friedensbewegten Israelis das Rederecht, sondern sogar | |
| Palästinenser*innen, die die Hamas verurteilen. Für die Demos gegen die | |
| Hamas im Gaza-Streifen interessieren sich oft weder die, die „Free | |
| Palestine“ überall an die Wände sprühen, noch diejenigen, die „from Hama… | |
| daruntersetzen. Wer ausschließlich Netanjahus rechtsradikales | |
| Kriegskabinett verurteilt, ohne den mörderischen Antisemitismus zu | |
| benennen, der die Hamas zu ihren Gräueltaten motiviert, muss sich die Frage | |
| gefallen lassen, warum die Hamas die Geiseln nicht längst freigelassen hat. | |
| Wenn die Linke die Erkenntnisse verdrängt, die seit den 1990er Jahren über | |
| die fatale Rolle des Antizionismus in der Neuen Linken präsent sind, wird | |
| sie auch die gegenwärtige Lage kaum begreifen. Eine Linke, die die komplexe | |
| Lage in Nahost nicht zu verstehen versucht, sondern stattdessen in | |
| Fankurvenmentalität wieder eine „Massenbewegung“ sein will und mit | |
| Internet-Heldenpose auf gefühlte oder bewusst verzerrte „Wahrheiten“ setzt, | |
| eine Linke, die einfach nur noch Stimmungen bedient, muss sich fragen | |
| lassen: Ist es links, die „Große Regression“ zu befeuern, die sich | |
| anschickt, die letzten Bastionen von Vernunft und Aufklärung zu schleifen? | |
| Ist man nicht längst ein Teil von ihr geworden? | |
| Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, den | |
| Organisator*innen der „All Eyes on Gaza“-Demonstration sei es nicht | |
| gelungen, an die Geiseln der Hamas zu erinnern und, dass die Gruppe | |
| „Israelis for Peace“ keinen Redebeitrag habe halten dürfen. Diese | |
| Behauptungen sind falsch. Die Gruppe Israelis für Frieden war nach eigenen | |
| Angaben von Beginn an Teil der Organisation der Demonstration und haben | |
| dort auch gesprochen. Zudem hieß es in den [4][offiziellen Forderungen der | |
| Organisator*innen], die auch bei der Demonstration verlesen wurden: | |
| „Setzen Sie sich für die Freilassung aller Opfer von Kriegsverbrechen ein, | |
| die sich als illegal Inhaftierte zu Tausenden in israelischen Gefängnissen | |
| und zu Dutzenden in Geiselhaft in Gaza befinden.“ | |
| 10 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Antideutsche/!6111502 | |
| [2] /Gaza-Demo-in-Berlin/!6116106 | |
| [3] /Krieg-im-Gazastreifen/!6114925 | |
| [4] https://all-eyes-on-gaza.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Lederer | |
| Alexander Karschnia | |
| ## TAGS | |
| Nahost-Debatten | |
| Radikale Linke | |
| Palästina | |
| Die Linke | |
| Antisemitismus | |
| Hermann L. Gremliza | |
| Gaza | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gremlizas „Gesammelte Schriften“: Der bürgerliche Politjournalismus als l�… | |
| Die ersten vier Bände von Hermann L. Gremlizas „Gesammelten Schriften“ | |
| lesen sich wie ein Geschichtsbuch. Sie erhellen die Verhältnisse in der | |
| BRD. | |
| Pro Gaza-Demo in Berlin: Erleichterung und Skepsis | |
| Erneut sind tausende Menschen für Palästina durch Mitte gezogen. Statt Wut | |
| überwiegen diesmal Erleichterung und Hoffnung, aber auch tiefes Misstrauen | |
| gegenüber Israel. | |
| Propalästinensische Szene: Solidarität sucht Anschluss | |
| Eine Mehrheit der Deutschen sieht Israels Kriegsführung in Gaza kritisch. | |
| Doch eine breite Demo-Bewegung gibt es nicht. Warum ist das so? | |
| Antideutsche: Linke Absicht, rechte Wirkung | |
| Antideutsch und links sein, das passt nicht zusammen. Wer für Humanismus | |
| eintritt, sollte dabei niemanden ausgrenzen. | |
| Linke-Veranstaltung zu Palästina: Gegen Genozid und Genossen | |
| Bei der umstrittenen Veranstaltung der Neuköllner Linken zu Palästina | |
| bleibt der erwartete Eklat aus. Vor allem wird gegen die eigene Partei | |
| gewettert. |