# taz.de -- Umgang mit Frühgeborenen: Wie Medizin Frühchen rettet | |
> Zwischen sechs und neun Prozent der Neugeborenen in Deutschland kommen zu | |
> früh auf die Welt. Moderne Medizin verbessert ihre Überlebenschancen. | |
Bild: Verkabeltes Frühchen im Brutkasten | |
Hamburg/Berlin taz | Auf der Früh- und Neugeborenen-Intensivstation des | |
Altonaer Kinderkrankenhauses im PNZ Altona herrscht an diesem Vormittag | |
eine friedvolle Ruhe. Kein Piepen von Maschinen, kein hektisches | |
Schuhquietschen eilender Pflegekräfte. Sämtliche Vitalwerte auf den | |
Monitoren der zentralen Überwachung leuchten grün. Nichts deutet auf das | |
Bangen um das Leben der winzigen Neugeborenen hin, auf Operationen an | |
winzigen Herzen oder auf die Sorgen der Eltern. | |
Entspannt führt der leitende Arzt der Abteilung für Neonatologie und | |
pädiatrische Intensivmedizin, Martin Blohm, durch die Zimmer. Auch hier ist | |
die Hightechmedizin einer Intensivstation nur auf den zweiten Blick zu | |
erkennen. Eingekuschelt in Decken liegt ein kaum 1.200 Gramm schweres Baby | |
auf der nackten Brust seiner Mutter. Eine Atemmaske bedeckt das winzige | |
Gesicht, Kabel überwachen die Herzfrequenz. „Am Vormittag sind besonders | |
viele Eltern hier und kuscheln mit ihren Kindern“, erklärt Martin Blohm. | |
Das sogenannte Känguruhen stärkt die emotionale Bindung zwischen Kind und | |
Eltern und hat positive Effekte auf die Entwicklung. | |
Der vertraute Herzschlag beruhigt das Kind, und die Bewegungen des | |
Brustkorbs geben Atemreize. Im Plauderton spricht der Chefarzt mit der | |
Mutter über die Gewichtszunahme des kleinen Mädchens, das noch nicht seine | |
Körpertemperatur allein halten kann und Unterstützung beim Atmen braucht. | |
Wenn es nicht auf der Brust der Mutter kuschelt, liegt es warm und | |
überwacht in einem Inkubator. Die Prognose sei gut, sagt Blohm beim | |
Rausgehen. Wenn alles weiter so positiv verläuft, können Mutter und Kind in | |
ein paar Wochen nach Hause gehen – kurze Zeit nach dem eigentlich | |
errechneten Geburtstermin. | |
## Unterstützung gelingt immer besser | |
[1][Als frühgeboren gelten alle Kinder], die vor der 37. | |
Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen. Längst nicht alle von ihnen | |
müssen nach der Geburt auf eine Intensivstation, die Mehrheit kommt „nur“ | |
wenige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin zur Welt. Sie können nach | |
wenigen Wochen, manchmal auch nach Tagen, die Kinderklinik verlassen. Aber | |
dann gibt es noch die sehr unreifen Frühchen, die zwischen der 24. und 32. | |
Schwangerschaftswoche zur Welt kommen und mit weniger als 1.500 Gramm | |
geboren werden. Ihr Anteil liegt bei etwa 1,5 Prozent aller Neugeborenen in | |
Deutschland. Dank moderner Medizin ist ihre Überlebensrate in den letzten | |
Jahrzehnten stark gestiegen. | |
Heutzutage überleben schon ab der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche | |
fast 80 Prozent dieser Kinder, gegenüber 30 Prozent in den späten 1970er | |
Jahren – als Risikopatienten gelten sie trotzdem. „Wenn ein Kind so früh | |
auf die Welt kommt, sind seine Organe und Körperfunktionen noch nicht | |
ausgereift. Deshalb braucht es viel medizinische Unterstützung, bis es | |
selbstständig überlebensfähig ist“, erklärt Blohm. | |
Dank des medizinischen Fortschritts gelingt diese Unterstützung immer | |
besser. Wer dabei sofort an Hightechmedizin mit vielen Maschinen denkt, | |
liegt aber nur halb richtig – auf der Frühgeborenen-Intensivstation gilt | |
eher „so wenig Technik wie möglich“. Die Behandlung von Frühgeborenen | |
vergleicht Blohm mit einem System, das im Gleichgewicht gehalten werden | |
muss. Die Ärzte greifen nur ein, wenn ein Teil dieses Systems zu kippen | |
droht. Ansonsten lässt man der kindlichen Entwicklung ihren Lauf. | |
## Gute Bindung zu den Eltern | |
Ein Beispiel dafür ist die invasive Beatmung. Sie wird nur noch in | |
Notfällen genutzt. Stattdessen wird die Lungenreifung nach der Geburt durch | |
Medikamente unterstützt, und danach genügt eine Atemmaske über der Nase als | |
Unterstützung. Das Kind leistet den größten Teil der Atemarbeit selbst. | |
Dadurch sinkt die Gefahr von Lungenschäden. Auch die Bindung zu den Eltern | |
hat an Bedeutung gewonnen. Auf der Frühgeborenen-Intensivstation des | |
Altonaer Kinderkrankenhauses gibt es Einzelzimmer. Die Mütter und Väter | |
können hier den ganzen Tag bleiben und werden eingebunden. Sie wechseln | |
Windeln, füttern alle zwei oder drei Stunden oder helfen beim täglichen | |
Waschen. Das ist gut für die kindliche Entwicklung und schafft Bindung. | |
Auch gestillt wird schon früh. Das Stillen ist sogar mit Atemmaske möglich. | |
Frühgeborene werden heute fast ausschließlich mit Muttermilch ernährt, | |
selbst bei einer Magensonde. Muttermilch liefert neben menschlichen | |
Eiweißen, Fetten und Kohlenhydraten auch Immunstoffe, Vitamine, | |
Mineralstoffe und Spurenelemente. Künstliche Milch aus dem Labor ist nur | |
ein zweitklassiger Ersatz. Im Zweifel bekommen die Frühchen, deren eigene | |
Mutter keine oder noch keine Milch hat, gespendete Muttermilch. Anders als | |
auf Intensivstationen für erwachsene Patienten piepen die | |
Überwachungsgeräte nicht, der Alarm ist hier leiser und arbeitet auf | |
manchen Stationen mit Vibrationen. Sogar das Licht wird an einen | |
Tag-Nacht-Rhythmus angepasst. Diese Routine ist gut für die Kinder.Ganz | |
ohne Hightechmedizin geht es trotzdem nicht. | |
Mit den modernen Inkubatoren lassen sich die Vitalwerte überwachen. Die | |
meisten Untersuchungen finden heute dank digitaler Technik direkt im | |
Inkubator statt, egal ob Röntgen, Wiegen oder Ultraschall. Das spart | |
unnötige Wege und verhindert Stress für die kleinen Patienten. Auch die | |
minimalinvasiven Behandlungstechniken haben sich weiterentwickelt. So | |
können Fehlbildungen, typische Erkrankungen des Darmes und fehlgeleitete | |
Blutkreisläufe auf der Station operiert werden – auch bei Patienten, die | |
kaum mehr als 500 Gramm wiegen. | |
Eine „Errungenschaft“ des Fortschritts: Die untere Grenze der medizinischen | |
Möglichkeiten hat sich in den letzten Jahren verschoben. In Deutschland | |
werden Kinder aktuell ab der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche kurativ | |
behandelt. Unterhalb von 22 Wochen ist ein Überleben wegen der noch nicht | |
entwickelten Lunge mit den heutigen Methoden der Medizin quasi unmöglich. | |
Auch das Gewicht des Kindes zum Zeitpunkt der Geburt hat Einfluss auf die | |
Überlebenschancen. „Die technischen Möglichkeiten sind sicher faszinierend, | |
aber ich weiß nicht, ob wir die natürliche Grenze noch weiter verschieben | |
können und sollten“, sagt Blohm. | |
Denn auch das gehört zur Wahrheit: Auch wenn die Überlebensraten stetig | |
steigen, bleibt vor allem bei den allerkleinsten Kindern die Gefahr für | |
kurz- und langfristige Probleme hoch. Herz- und Lungenprobleme kommen | |
häufig vor. Und besonders das Gehirn ist noch unreif und sehr empfindlich. | |
Erhebungen wie die [2][bayerische Entwicklungsstudie] von Forschenden um | |
den Entwicklungspsychologen Dieter Wolke von der University of Warwick | |
begleiten seit den 1980er-Jahren Hunderte Familien mit Frühchen. Ihre | |
Untersuchungen zeigen, dass Frühchen bis ins Erwachsenenalter Folgen der | |
frühen Geburt spüren. Neben geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen | |
kommt es auch zu Verhaltensauffälligkeiten oder Verzögerungen in der | |
sprachlichen Entwicklung. Auch psychische Probleme wie Depressionen treten | |
häufiger auf. „Diese Langzeitstudien sind immens wichtig, um die Versorgung | |
der Kinder zu verbessern. Nur so können wir nachvollziehen, welche | |
Maßnahmen nicht nur kurzfristig Leben retten, sondern auch auf lange Sicht | |
gut für das Leben der Kinder sind“, sagt Blohm. | |
## Noch vor der Geburt ansetzen | |
Mindestens genauso wichtig wie ein besseres Verständnis für die Spätfolgen | |
und neue Behandlungsansätze ist aus Expertensicht die Prävention von | |
Frühgeburten. Zwar ist die medizinische „Überwachung“ der Schwangerschaft | |
in Deutschland und vielen anderen Industrienationen engmaschig. | |
Doch nicht immer werden die Warnzeichen für Frühgeburten rechtzeitig | |
erkannt und entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen. Die gibt es nämlich | |
durchaus: So hilft zum Beispiel ein regelmäßiger Ultraschall dabei, | |
Veränderungen am Gebärmutterhals früh zu entdecken. In manchen Fällen kann | |
ein Hormonpräparat oder niedrig dosiertes Aspirin das Risiko deutlich | |
senken. Auch Infektionsvorsorge ist sehr wichtig. | |
Jeder weitere Tag im Mutterleib ist ein Gewinn für die Kinder. Während ihre | |
natürliche Entwicklung weiter voranschreitet, können die Medizinerinnen und | |
Mediziner die Kinder zudem besser auf eine zu frühe Geburt vorbereiten. Zum | |
Beispiel wird den Kindern noch im Mutterleib Kortison gegeben. Das Hormon, | |
das sonst in der Nebenniere gebildet wird, beschleunigt die Lungenreifung. | |
Im Falle einer Geburt sind sie nun besser in der Lage, selbstständig zu | |
atmen und brauchen weniger Hightechmedizin. | |
4 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Geburt-und-Klima/!6003635 | |
[2] https://www.bayerische-entwicklungsstudie.de/die-studie | |
## AUTOREN | |
Birk Grüling | |
## TAGS | |
Geburt | |
Medizin | |
Schwangerschaft | |
GNS | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |